Ein erfülltes Leben?

 

Kindheit und Jugend

Als ich 1926 geboren wurde, wohnten meine Eltern in einem kleinen Straßendorf in Schlesien mit wenig mehr als hundert Einwohnern. Mein Vater war zu der Zeit als Heizer und Maschinist in der Dampfmühle in Saarau beschäftigt. Das Sakrament der Taufe habe ich in der zuständigen katholischen Pfarrkirche von Bockau empfangen.

Um den relativ langen Weg zu Vaters Arbeitsstätte zu verkürzen, sind meine Eltern 1928 nach Saarau Kreis Schweidnitz umgezogen, in einen Industrieort mit u.a. einer chemischen Fabrik, der Silesia, einer Schamottefabrik und der schon genannten Dampfmühle. Eine Zeit lang wurde in Saarau übrigens auch Braunkohle abgebaut. Wir hatten zunächst eine Souterrain-Wohnung in der Bismarckstraße 4. Hier wurde am 1. Januar 1929 meine Schwester geboren.

mit Schwester

mit Schwester im Jahr 1931

Von dieser Wohnung aus trat ich auch meinen ersten Schulweg nach den Osterferien 1932 an. Ich besuchte die katholische Volksschule in Saarau. Damals gab es noch die Konfessionsschulen, nämlich je eine katholische und evangelische. Von den reichlich 3.000 Einwohnern Saaraus war etwa ein Drittel katholischer und zwei Drittel evangelischer Konfession.

Schon 1933 sind wir erneut umgezogen, weil für eine 4-köpfige Familie die bisherige Wohnung zu klein geworden war. Unser neues Domizil war in der Gartenstraße 11 in einem Mietshaus mit sechs Wohnungen. Wir wohnten im Parterre rechts.

Ich verbrachte dort eine recht unbeschwerte Kindheit, in der sich allerdings schon die Naziherrschaft zunehmend bemerkbar machte. Die Maiaufmärsche der Braunhemden sind mir noch in deutlicher Erinnerung, auch der sich verstärkende Druck auf alle Deutschen, den einschlägigen Parteiorganisationen beizutreten. So kam mein Vater nicht umhin, Mitglied der „Deutschen Arbeitsfront“ zu werden und auch mir blieben das „Jungvolk“ und die „Hitlerjugend“ (HJ) nicht erspart.

Aus der Schulzeit ist mir ein Ereignis im Gedächtnis haften geblieben, das zum einen erkennen lässt, dass bei uns daheim jeder Pfennig zweimal umgedreht werden musste, und das zum anderen die Strenge meines Vaters aufzeigt. Wir hatten in der Klasse ein Mädchen – ja, es gab damals schon die Koedukation – das, wie man so sagt, nicht ganz weg, aber auch nicht ganz da war. Sie hatte auch gewisse Sprachschwierigkeiten und stieß, besonders wenn sie sich ärgerte, ausgesprochene Urlaute aus. Und das reizte uns natürlich sie gelegentlich zu hänseln. Eines Tages hatte ihr jemand in der Pause den Schulranzen weggenommen, und als sie diesem nachlief, flog er kreuz und quer durch die Klasse. Unser Ziel, die Urschreie der Heidler Grete, so hieß das Mädchen, zu hören, war erreicht. Aber auch die Pause war schnell zu Ende und die Lehrerin wurde von der Grete bestürmt, weil bei der Wurfaktion die Schiefertafel im Schulranzen zu Bruch gegangen war. Bald war geklärt, dass sieben Buben an der Aktion beteiligt waren, darunter auch ich. Und damit war auch klar, dass jeder der „Unholde“ 10 Pfennige mitzubringen hatte, denn 70 Pf. kostete damals eine neue Schiefertafel. Ich aber hatte mich nicht getraut, von meinem Vater den Groschen zu erbitten. Die Folge war, dass er während der Unterrichtszeit in die Schule bestellt, dort über die „Untaten“ seines Sohnes aufgeklärt und zur Kasse gebeten wurde. Als ich mittags Schlimmes ahnend heim kam, hat er wortlos den Ledergürtel von seiner Hose gelöst, mich übers Knie gelegt und so jämmerlich verdroschen, dass meine Mutter ihn beschwichtigen musste.

Aber dieser Lümmel ist trotzdem 1934 Ministrant geworden. Ich war es gern und war gern darüber hinaus auch bei freiwilligen Arbeiten dabei, etwa beim Putzen der Kerzenleuchter oder beim Aufhängen der Adventskränze, beim Aufstellen der Christbäume o.ä.

Ministrant war auch ein in Saarau wohnender Verwandter mütterlicherseits, der Ernst. Vom dem weiß ich noch gut, dass er den Weihrauch schlecht vertragen hat. Wir mussten, wenn wir als Ministranten keine besondere Funktion hatten, bei den Gottesdiensten viel und lange knien. Und da ist der gute Ernst des Öfteren bewusstlos umgekippt. Der Mesner oder Küster, wie wir zu sagen pflegten, hat ihn dann an die frische Luft befördert, was schnell zur „Wiederbelebung“ geführt hat.

Der gute Ernst ist mir aber noch wegen einer anderen „Glanzleistung“ in bester Erinnerung. Es war bei uns daheim üblich, Ostern dem Pfarrer ein kleines Geschenk in Form von Eiern, Fleisch o.ä. zukommen zu lassen. So ward auch der kleine Ernst einst von seiner Mutter beauftragt, im Pfarrhof ein paar Eier abzugeben. Und es war ihm auch genau aufgetragen, was er zu sagen habe, wenn ihn der Pfarrer nach dem Läuten öffnet, nämlich: „Gelobt sei Jesus Christus! Die Mutter schickt ein paar Eier.“ Ernst marschiert los, läutet am Pfarrhof und stutzt, denn es öffnet nicht der Pfarrer, sondern die Haushälterin. Da ihm in dem Fall die aufgetragene Grußformel nicht angebracht erscheint, folgt er einem Geistesblitz und sagt: „Gegrüßet seist Du Maria! Die Mutter schickt ein paar Eier.“

Im Jahr 1935 musste sich mein Vater zwei schweren Magenoperationen im Krankenhaus der Kreisstadt Schweidnitz unterziehen, die zum Verlust von drei Vierteln seines Magens führten. Schmalhans war in dieser Zeit Küchenmeister. Meine Mutter hat jede freie Stunde an der Nähmaschine verbracht, um durch Näharbeiten für andere die Haushaltskasse etwas aufzubessern.

1936 war mein Vater dann wieder soweit hergestellt, dass wir kleinere Radtouren miteinander unternehmen konnten. Eine davon galt einem ganz besonderen Anlass, nämlich der Verkehrsfreigabe des tausendsten Autobahnkilometers in Deutschland. Autobahnen waren damals etwas ganz Neues. Kreuzungsfreie Straßen mit getrennten Fahrbahnen, die nur dem Kraftverkehr vorbehalten waren, kannte man bis dahin kaum. Den Nazis war es gelungen, in kurzer Zeit hunderte von Kilometern solcher Straßen aus dem Boden zu stampfen. Es ist unbestritten, dass durch diese Bauvorhaben die Arbeitslosigkeit in Deutschland wesentlich reduziert werden konnte. Die Fertigstellung des tausendsten Kilometers musste deshalb besonders pompös gefeiert werden. Und da dieser Kilometer im Zuge der schlesischen Strecke zwischen Liegnitz und Breslau lag, wollten wir uns dieses Spektakel nicht entgehen lassen. Wir fuhren also am 27. September nach Kostenblut, knapp 20 km von Saarau entfernt. Dort führte – und führt heute noch – die Autobahn vorbei. Wir postierten uns auf einer Brücke über die Autobahn und konnten erleben, wie der „Führer“ Adolf Hitler, in einem offenen Wagen stehend, gefolgt von einem langen Autokonvoi, eskortiert von einer Motorradstaffel und überall begrüßt von jubelnden Menschen, die neue Strecke abfuhr. Trotz aller Vorbehalte gegen das Naziregime konnten wir uns dem Reiz, einmal einen Autobahnabschnitt und zum anderen den „Führer“ persönlich zu sehen, nicht entziehen.

1936 war auch das Jahr, in dem mir unser Saarauer Pfarrer Sauer, der eine Zeit lang auch mein Religionslehrer war, nahelegte, das Gymnasium in Breslau zu besuchen. Das war mit enormen Schwierigkeiten verbunden, da die dadurch bedingten Kosten nicht unerheblich waren. Nach langen Beratungen und Abwägungen war es Ostern 1937 doch so weit, dass ich die Volksschule verlassen und in das Kath. St. Matthiasgymnasium zu Breslau eintreten konnte. Dem ging natürlich eine Eintrittsprüfung voraus, zu der u.a. auch Tests in sportlichen Disziplinen gehörten, nämlich im Hochsprung, Weitsprung und Schlagballwerfen. Bei letzterem hoben sich die Buben vom Land ganz deutlich von denen aus der Stadt ab. Während die einen problemlos den Ball an die mehr als 30 m entfernte hohe Mauer warfen, die den Schulhof abschloss, hatten die anderen Mühe, ihn wenigstens 15 m weit zu befördern.

Wohnen konnte ich auf Vermittlung von Pfarrer Sauer im Erzbischöflichen Knabenkonvikt am Domplatz 9. Es war ein damals durchaus modernes Haus mit Studierräumen, Waschräumen und Schlafräumen für jede Klasse; mit Duschräumen und Bastelräumen, mit einem Spielzimmer, Billardzimmer und Musikzimmer und natürlich mit einem Turnsaal. Dazu kamen Hof und Garten, so dass man sich auch in der frischen Luft betätigen konnte. Im Winter war der Hof mit einer Spritzeisbahn ausgelegt, die den Schlittschuhläufern Trainingsmöglichkeiten bot. Im Haus herrschte eine strenge Ordnung, über die „Senioren“ in den Studier- und Schlafräumen zu wachen hatten. Es gab feste Zeiten für die Hausaufgabenerledigung und für Freizeit. Die Leitung des Hauses war einem Geistlichen übertragen, und zwar dem Präfekten Fischer. Ich habe in diesem Haus schöne Jahre verbracht, die sich tief in mein Gedächtnis eingeprägt haben und die mich sicher auch deutlich geprägt haben.

Es war gern gesehen, wenn die Heimbewohner dem Domchor angehörten, der seine Proben regelmäßig im Musikzimmer des Konvikts hatte. Obwohl musikalisch wenig begabt habe ich den Versuch unternommen im Chor mitzusingen. Das aber währte nicht lange, denn bald hatte der Domkapellmeister aus meiner Richtung falsche Töne gehört. Ein Vorsingen beendete schlagartig meinen Versuch.

Saarau liegt ca. 50 km von Breslau entfernt. Die Bahnverbindung zwischen beiden Orten war gut, doch die Fahrkarte hat schon immer Geld gekostet, und das war bei uns stets knapp. Für die Heimfahrten während der Ferien kam bei schönem Wetter dann nur das Fahrrad in Betracht. Der Verkehr war seinerzeit relativ gering, so dass die Fahrten nicht gefährlich waren. Seit damals ist mir das Fahrrad ein lieb gewordenes Fortbewegungsmittel.

Auch an Sonntagen habe ich es – oft mit Freunden – für Ausflüge benutzt. Einmal bin ich mit meinem Klassenkameraden Walter Bochynek nach Trebnitz an das Grab der hl. Hedwig, der Patronin Schlesiens, gefahren. Walter hatte dort eine Tante, die Klosterschwester war. Der Tag war heiß, der Durst entsprechend groß, und die Freude auf ein erfrischendes Getränk stieg mit jedem Kilometer, dem wir Trebnitz näher kamen. Um so größer war die Enttäuschung, als uns die Tante statt Limonade einen heißen Tee anbot, mit der Begründung, das sei erstens gesünder und stille zweitens den Durst viel besser als ein kaltes Getränk. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir noch ein zweites Mal nach Trebnitz gefahren wären.

Präfekt Fischer musste 1938 das Konvikt verlassen, weil er Pfarrer von Oberschreiberhau wurde. Er lud mich beim Abschied ein, ihn in den großen Ferien zu besuchen, um beim Ministrieren einzuspringen und auch sonst ein wenig in Haus und Hof zu helfen.

Ich machte schon in den Sommerferien 1939 von der Einladung Gebrauch und habe einige abwechslungsreiche Tage im Riesengebirge verbracht. Ein Aufenthalt dort war ohne Kammwanderung fast nicht denkbar. So habe auch ich mich zu diesem Unternehmen entschlossen und bin – ausgerüstet mit vielen guten Ratschlägen – eines Morgens sehr früh zu dieser Wanderung gestartet. Sie ging über den Zackelfall zum Reifträger hinauf und dann den ganzen Kamm entlang zur 1603 m hohen Schneekoppe, dem höchsten Berg Schlesiens. Der Abstieg führte nach Krummhübel und von dort ging es mit dem letzten Zug über Hirschberg nach Oberschreiberhau zurück. Das war eine anstrengende aber ungeheuer eindrucksvolle Wanderung. Sie hat mir so gut gefallen, dass ich sie noch zweimal gemacht habe, nämlich im Sommer 1941 und im Sommer 1943. In diesen Jahren durfte ich wieder je ein paar Tage Ferien in Oberschreiberhau als Gast von Pfarrer Fischer verbringen.

In meiner Gymnasialzeit hatte ich auch mehrfach Gelegenheit, etliche Ferientage auf dem Bauernhof der Eltern meines Klassenkameraden Joachim Steinig in Gräbendorf (früher Sablath) zu verbringen. Es war ein stattlicher Hof mit nach meiner Erinnerung weit über 100 Morgen Land. Dort habe ich die Landwirtschaft ein wenig kennen gelernt, aber auch die große Freiheit des Lebens auf dem Land genossen. Wir haben beim Einfahren der Ernte – auf den Pferden reitend – geholfen, haben aber dann auch wieder auf dem Feld Hamster ausgegraben, die wir zuerst mit einem Jauchefass voll Wasser in die Enge getrieben hatten. Die Beute musste natürlich vorgeführt werden. Das geschah so, dass den Hamstern an einem Bein eine Leine angebunden wurde, mit der sie dann heimgeführt wurden.

Die Steinigs hatten vier Kinder und konnten sich eine Erzieherin leisten. Deren Aufgabe war es u. a. am Abend vor dem Zu-Bett-Gehen mit den Kindern das Abendgebet zu verrichten. Und da dies keineswegs kurz war, existierte für die Erzieherin eine eigene Kniebank, während die mehr oder weniger hoffnungsvollen Sprösslinge auf dem Boden knien durften.

Die trotz mancher Sorgen doch nie gewichene Unbekümmertheit meiner Kindheit und frühen Jugend erfuhr einen deutlichen Einbruch am 1. September 1939, dem Tag, an dem der 2. Weltkrieg begann. Erst 21 Jahre waren seit dem Ende des 1. Weltkriegs vergangen, an dem mein Vater noch ein Jahr als Frontsoldat teilgenommen hatte. Und je größer die Zahl der Gegner Deutschlands wurde, um so düsterer wurden die Prognosen meines Vaters über den Ausgang des 2. Weltkrieges.

Bereits in den Sommerferien 1941 traf uns „Spittelisten“, also die Bewohner des Knaben-konvikts, ein schwerer Schlag. Unser Haus wurde als Reservelazarett beschlagnahmt, denn der am 22. Juni gegen Russland begonnene Feldzug brachte so viele Verwundete mit sich, die in den vorhandenen Krankenhäusern nicht mehr untergebracht werden konnten. Wohin nun mit den Insassen des Konvikts? Ein von der katholischen Kirche getragener Aufruf in einigen Sonntagsgottesdiensten vor allem im Breslauer Dom erzeugte so viel Hilfsbereitschaft bei der Bevölkerung, dass alle „Spittelisten“ privat in Familien untergebracht werden konnten. Ich fand Aufnahme bei der Familie Seidel in der Hirschstraße 52. Deren Sohn Hubert hatte gerade eine „Ehrenrunde gedreht“ und war in unserer Klasse gelandet. Seine Eltern hofften, dass das Arbeiten zu zweit seine Leistungen steigern werde. Hubert musste also sein Zimmer für einige Zeit mit mir teilen.

Er war sehr musikalisch, sang im Domchor mit, war aber auch sportlich interessiert. Mit ihm und unserem Klassenkameraden Hans Adamitza zusammen bin ich des Öfteren im Breslauer Stadion gewesen, um im Sommer Leichtathletik und im Winter Geräteturnen zu betreiben. Das geräumige und moderne Stadion war für alle Sportarten bestens ausgestattet. Es besaß auch eine Rollschuhbahn. Wenn wir uns wieder einmal richtig ausgetobt hatten, sind wir nach dem Duschen noch oft und gern zu dieser Bahn gegangen, um den Mädchen – diese überwogen bei diesem Sport – bei ihren Übungen zuzusehen. Bald haben uns zwei Freundinnen besonders imponiert, eine blonde und eine dunkelhaarige. Anbandelungsversuche waren jedoch nicht von Erfolg gekrönt.

Im Sommer 1942 haben wir die Kriegsauswirkungen erneut sehr deutlich am eigenen Leibe verspürt. Da alle „wehrfähigen“ Männer längst zum Dienst an der Front oder in der Heimat einberufen waren, fehlten vielerorts Arbeitskräfte, so auch in der Landwirtschaft. Also mussten die Schüler auf die lange ersehnten Erholung in den Sommerferien verzichten und durften dafür bei der Ernte in verschiedensten Bauernhöfen helfen. Unsere Klasse war in ein paar kleineren Dörfern nordöstlich von Breslau zur Mithilfe eingeteilt.

Und dann bekam uns der Krieg Schlag auf Schlag immer mehr in seine Krallen. Ab November 1942 wurden wir klassenweise als sogenannte Flakhelfer eingesetzt. Das geschah in der Form, dass wir jede dritte Nacht in einer der vielen Flakbatterien im Raum Breslau Dienst tun mussten. Dazu wurden wir in eine Luftwaffenuniform gepackt, an der keinerlei Truppengattungsabzeichen angebracht waren. Ich war einer Flakbatterie in Breslau-Leerbeutel am sog. Chimborasso, einem Aussichts- und Schlittenhügel zugeteilt. Der Dienst war nicht übermäßig anstrengend, da bis zu dieser Zeit auf Breslau kaum Luftangriffe geflogen wurden. Für die Westalliierten war die Flugentfernung wohl zu groß und die Russen verfügten über keine schlagkräftige Luftwaffe. Aus diesen Gründen galt Schlesien auch als der „Reichsluftschutzkeller“. Unseren schulischen Leistungen war dieser Dienst allerdings nicht besonders zuträglich.

Krieg und Gefangenschaft

Die Episode als Flakhelfer währte jedoch nicht lange. Schon am 15. Februar 1943 wurden alle Schüler des Geburtsjahrgangs 1926 als „Luftwaffenhelfer“ einberufen, und zwar zum ständigen Dienst in einer Flakeinheit. Die allermeisten waren noch nicht einmal 17 Jahre alt. Für die neu geschaffene „Truppe“ hatte man auch eine eigene Uniformen kreiert. Sie war eine Mischung aus HJ- und Luftwaffenuniform. Zu unserem Leidwesen mussten wird dazu bei der Ausgehuniform die Hakenkreuz-Armbinde tragen. Die Angehörigen unserer Klasse waren einer Flakbatterie in Burgweide-West, einem Ort im Norden Breslaus zugeteilt. Die Ausbildung entsprach weitgehend der soldatischen. Wir mussten exerzieren und wurden in allen Funktionen am Geschütz und in der Luftvermessung unterwiesen. Untergebracht waren wir in Holzbarracken, die jeweils mit 4 zweistöckigen Betten ausgestattet waren.

Anfangs mussten wir noch täglich von der Flakbatterie zum Schulunterricht in das Matthiasgymnasium fahren. Dies währte jedoch nicht lange, da die Luftalarme häufiger wurden und die Batterie nicht ausreichend besetzt war. Also mussten die Schüler nicht mehr zur Schule, sondern die Schule musste zu den Schülern kommen, d. h. der Unterricht fand in der Flakbatterie statt und das nur noch in sehr gekürzter Form. Alle sog. Nebenfächer wie etwa Sport, Musik, Kunsterziehung und Religion waren weggefallen. Auseinandergefallen war endgültig unsere Klassengemeinschaft, denn die Geburtsjahrgänge 1925 und ggf. früher wurden nicht mehr als Luftwaffenhelfer einberufen, sondern gleich zum Reichsarbeitsdienst (RAD) und der Geburtsjahrgang 1927 hatte zunächst noch normalen Unterricht, bis auch ihn in der zweiten Jahreshälfte 1943 das Schicksal als Luftwaffenhelfer ereilte.

In der Zeit in Burgweide-West bekamen wir eines Tages Besuch von einem Werbe-Offizier der Waffen-SS, also der Elitetruppe „unseres Führers“. Er ließ alle Luftwaffenhelfer mit einer Körpergröße von 1,80 m und mehr zusammentrommeln und hielt einen Werbevortrag für seine Truppengattung. Im Anschluss daran erhoffte er sich viele Freiwilligen-Meldungen, erhielt aber keine einzige. Auch seine Appelle an die Ehre des „deutschen Jungen“ fruchteten nichts. Zornig versprach er wiederzukommen und sich jeden einzelnen vorzuknöpfen. Er kam auch wieder, hatte aber erneut keinen Erfolg, denn in der Zwischenzeit hatten sich alle in Betracht Kommenden als Freiwillige bei irgendwelchen anderen Truppeneinheiten oder aber als Reserveoffiziersbewerber (ROB) bei Heer, Marine oder Luftwaffe gemeldet. Damit waren sie den Zugriffen der Waffen-SS entzogen. Ich selber hatte eine Zulassung für die Reserve-Offizierslaufbahn des Heeres. Noch weitaus zorniger als beim ersten Mal verließ jener Werber ob seines Misserfolgs unsere Batterie.

Ein anderes Ereignis aus jenen Monaten ist mir in viel angenehmerer Erinnerung als jenes mit dem SS-Offizier. Um Weihnachten 1943 erhielt ich Urlaub, den ich bei meinen Eltern in Saarau verbrachte. Mein Kontakt mit der dortigen Pfarrei war nie abgerissen. Und so erfuhr ich auch bei der Urlaubs-Kontaktaufnahme, dass man etwas besonderes plane, über das absolutes Stillschweigen gewahrt werden müsse. Dazu muss man wissen, dass aus allen Kirchen längst die Glocken entfernt waren um sie einzuschmelzen und dann ihr Metall in veränderter Struktur für den „Endsieg“ einzusetzen. Bevor in Saarau jedoch die Glocken abgeholt wurden, hatte der Inhaber eines Radiogeschäfts ihr Geläut auf Platte aufgenommen. Er und der Saarauer Pfarrer Sauer hatten dann die Idee, die Aufnahmen zu nutzen und das Glockengeläut den Bewohnern des Ortes zur Christmette 1943 über Lautsprecher zu Gehör zu bringen. Und diese Idee wurde in die Tat umgesetzt. Es galt 4 starke Lautsprecher in den Fenstern des Kirchturms nach allen Himmelsrichtungen zu installieren, die Kabelverbindungen vom Turm zur Sakristei herzustellen und in der Sakristei die für heutige Verhältnisse äußerst primitiven Plattenspieler und Regler aufzubauen. Bei diesen Arbeiten habe ich tatkräftig mitgeholfen. Und das hat sich gelohnt! Am hl. Abend 1943 riefen um 23.45 Uhr die vertrauten Kirchenglocken über Lautsprecher – weithin deutlich vernehmbar – die Christen zur Mette und nicht wenige betraten zu Tränen gerührt das Gotteshaus in Saarau. Ein unvergessener Eindruck!

Bald darauf ging meine Zeit als Luftwaffenhelfer und damit auch meine Gymnasialzeit zu Ende. Am 13. Februar 1944 erhielt ich das Entlassungszeugnis. Damit war auch der sog. Reifevermerk verbunden, eine Bescheinigung, mit der bestätigt wurde, dass zu dem Termin, an dem ich bei weiterem Besuch der Schule die Reifeprüfung abgelegt haben würde, ich den „Vorsemestervermerk“ erhalten werde. Dieser Vermerk berechtigte damals zum Hochschulstudium.

An ein Studium wagte damals allerdings keiner auch nur im geringsten zu denken. Der Krieg, der längst an allen Fronten den Deutschen nur Rückschläge brachte, zog jeden nur einigermaßen Einsetzbaren wie ein Moloch an sich. Und so musste ich schon am 15. Februar 1944 zum RAD einrücken.

Das Lager, in dem ich mich zu melden hatte, lag in der Nähe von Bad Kudowa im Glatzer Bergland. Auch hier gab es zunächst den üblichen Drill. Uns zu schikanieren fiel allerdings den Ausbildern äußerst schwer, denn zu unserer Einheit gehörten fast ausschließlich Gymnasiasten oder Oberschüler und meist ehemalige Luftwaffenhelfer. Und diese hielten erstens zusammen wie Pech und Schwefel und kannten zweitens bereits den Kasernenhofbetrieb. Die RAD-Ausbilder, die in der Regel zur negativen geistigen Auslese gehörten, haben sich bei uns bald die Hörner abgestoßen.

Etwas positives hatte mein RAD-Einsatz jedoch auch, nämlich eine Ski-Grundausbildung. Es herrschte ja tiefster Winter im Glatzer Bergland. Der brachte es aber auch mit sich, dass eine höher gelegene Straße total eingeschneit und ein Bergdorf von der Außenwelt abgeschnitten war. Schneepflüge gab es keine und wenn, dann waren sie an irgendwelchen Winterfronten eingesetzt. Also mussten die Arbeitsmänner einspringen. Morgens wurde die Schaufel auf den Rücken geschnallt, in einem längeren Marsch auf Skiern der Höhenunterschied bis zur Hochstraße überwunden, den ganzen Tag Schnee geschippt und abends wieder zum Lager abgefahren. Und das ging etliche Tage so, bis die Straße wieder frei war.

mit Uniform

in RAD Uniform

Dann war aber auch die Skiausbildung für mich bald zu Ende, denn ich wurde nach Breslau in die RAD-Hauptverwaltung abkommandiert. Dort musste ich irgendwelche Verwaltungsarbeiten erledigen oder Wache schieben. Das alles währte jedoch nur sehr kurz, denn schon am 26. April 1944 wurde ich vom RAD entlassen.

Es blieb mir dann noch eine Schonzeit bis zum 13. Juni 1944, die ich bei meinen Eltern in Saarau verbrachte. An jenem Tag musste ich meinen Dienst als Rekrut und ROB bei der Deutschen Wehrmacht antreten. Ich hatte mich in Brieg/Schlesien beim Pionier-Einsatz-Bataillon 8 zu melden. Hier wurde ich allerdings nur eingekleidet und habe eine erste Grundausbildung erhalten. Dazu gehörte vor allem das Erlernen des soldatischen Grußes. Schon am 23. Juni 1944 wurde ich nach Breslau-Cosel zum Pionier-Ersatz- und Ausbildungs-Bataillon 28 versetzt. Und in dieser Kaserne an der Oder wurden wir gedrillt und geschliffen, wie es halt damals allgemein üblich war. Für die Pioniere gab es da noch so manche Extras wie das Exerzieren mit Pontons und Behelfsbrückengerät, das Üben mit Flammenwerfern oder mit Mienensuchgeräten. Da auch das Schießen mit scharfer Munition geübt werden musste, waren wir im Juli 1944 für etwa zwei Wochen auf dem Truppenübungsplatz Milowitz bei Prag.

Am 20. Juli 1944, dem Tag des missglückten Attentats auf Adolf Hitler, waren wir gerade wieder in Breslau zurück. Schon am Tag danach wurde eine Entscheidung getroffen, die – weil für alle beklemmend – in meinem Gedächtnis haften geblieben ist, nämlich die, dass ab sofort der soldatische Gruß abgeschafft und dafür der „Hitlergruß“ eingeführt ist. Die psychologische Wirkung war eine ungeheuere.

In jener Zeit war es üblich, dass Reserve-Offiziersbewerber im Anschluss an die Grundausbildung zur „Frontbewährung“ abkommandiert wurden. Aus uns nie bekannt gewordenen Gründen ist man bei den ROB’n unserer Einheit von dieser Übung abgewichen. Keiner von uns war darüber sehr traurig, denn an den „Endsieg“ haben wir trotz aller gegenteiligen Propaganda längst nicht mehr geglaubt.

So schloss sich also an die Grundausbildung der sog. ROB-Lehrgang an. Dazu gehörte damals noch die Ausbildung zum Führen eines Kraftfahrzeugs. Diese Ausbildung erhielten wir in Glogau/Schlesien auf recht abenteuerlichen Lkw. Diese Fahrzeuge waren seit längerem auf Holzvergaser umgestellt. Die „Holzkocher“ mussten schon sehr früh angeheizt werden. Und die Fahrten mussten immer wieder unterbrochen werden, um zur Vermeidung von „Hohlbrennern“ in den Holzkocher nachzustochern und so für ein gleichmäßiges Abbrennen des Holzmaterials sorgen. Die Fahrprüfung habe ich mit einem Omnibus abgelegt. Ich war damals mächtig stolz, den Führerschein der Klasse II zu besitzen.

In jener Zeit wurde auch mein Vater einberufen, und zwar zur Luftwaffe (Bodenpersonal), wo er hauptsächlich zur Bewachung von Kriegsgefangenen abkommandiert war.

Als sich das Jahr 1944 dem Ende zuneigte, war die Lage an allen Fronten für Deutschland äußerst bedrohlich. Die Russen standen an der Weichsel und man begann vorsorglich mit der Errichtung von Panzergräben entlang der schlesischen Grenze zum sog. Warthegau hin, also an der Grenze zur Provinz Posen. Wir Pioniere wurden im Norden von Breslau eingesetzt, um Sprengkammern in Brücken einzubauen bzw. sonstige Sprengvorrichtungen anzubringen. Weiterhin mussten wir alle von Norden und Osten auf Breslau zuführenden Straßen daraufhin erkunden, ob sie von Alleen eingesäumt sind. Man beabsichtigte nämlich, die Bäume bei einem weiteren Vordringen des Feindes durch Sprengung so zu fällen, dass die Straßen unpassierbar werden. Man glaubte damit den Feind aufhalten zu können.

Dann kam jener 12. Januar 1945, an dem sich, ausgehend von Baranow-Brückenkopf, die russischen Front wie eine Walze auf die alte deutsche Reichsgrenze zubewegte, und das mit einer Geschwindigkeit, die niemand erwartet hatte. Schon wenige Tage später setzten sich die ersten Flüchtlingstrecks aus den schlesischen Grenzregionen in Richtung Südwesten in Bewegung. Wir mussten damals im Raum Hundsfeld nördlich von Breslau die Sprengvorrichtungen an und in den Brücken mit Sprengmunition versehen. Lange Flüchtlingskolonnen zogen an uns vorüber. Und eines Tages stand plötzlich meine Mutter vor mir, um sich zu verabschieden, denn es war klar, dass der Krieg uns für längere Zeit trennen würde. Wie es ihr gelang, in den Wirren der damaligen Wochen noch bis zu mir vorzudringen, ist für mich heute fast nicht mehr nachvollziehbar. Zu so etwas ist wohl nur eine Mutter fähig. Sie musste ja zunächst einmal von Saarau nach Breslau fahren (ca. 50 km), sich in der Kaserne in Breslau-Cosel nach unserem Einsatzort erkundigen und sich von dort gegen den Flüchtlingsstrom nach Hundsfeld durchschlagen, und das alles mitten im Winter bei teilweise empfindlicher Kälte. Sie drückte mir zum Abschied noch ein Päckchen in die Hand, das auch einen Brief enthielt, wie ihn wohl nur eine Mutter, zumal eine tief religiöse Mutter, schreiben kann. Mir ist es gelungen, diesen Brief durch alle Wirrnisse hindurchzuretten, da er mich zutiefst beeindruckt hatte. Er hat folgenden Wortlaut:

Saarau, den 15.1.45

Mein geliebter, guter Junge!

Aus der Ferne gebe ich Dir den Abschiedssegen. Es behüte und schütze und segne Dich der allmächtige und barmherzige Gott, der Vater, der Sohn und der hl. Geist. Er schenke Dir die Gesundheit an Leib und Seele und eine glückliche, gesunde Heimkehr. Dein hl. Schutzengel möge Dich begleiten und Dich sicher hindurchführen durch die vielen Gefahren, denen Du entgegen gehst. Und die liebe Gottesmutter möge über Dich wachen und Dir immer mit mütterlicher Liebe beistehen, jederzeit! Ihre Liebe und Ihre Sorge reicht ja dahin, wo Deine leibliche Mutter nicht sein kann.

Ich habe das alles geahnt und schon davon gesprochen, dass Du wirst raus* kommen, ohne uns Lebewohl zu sagen, und nun ist es Wirklichkeit geworden. Ja, es wäre zu schön gewesen, um wahr zu sein. Aber mein Gebet und meine Liebe begleiten Dich bei Tag und Nacht, und bist Du in Not, dann rufe mich, dann rufe mich, und noch inniger soll mein Gebet für Dich zum Himmel steigen. Denn eine Mutter hört und fühlt ja alles und ahnt es, wenn das Kind sie braucht, und mag es noch so weit sein. Denn Mutterliebe ist ja unendlich.

Dann wollen wir alles geduldig und gottergeben tragen, was uns der Herr schickt. Dann Lebewohl mein guter, lieber Junge, und auf ein gesundes, frohes Wiedersehen!

Einen Abschiedskuss und viele herzliche Grüße

                 von Deiner Dich liebenden

                                        Muttel

* raus bedeutete im damaligen Sprachgebrauch: an die Front

Der Vormarsch der Russen ging mit einer beachtlichen Geschwindigkeit weiter. Noch im Januar hatten sie die Oder oberhalb und unterhalb von Breslau überschritten. Es wurde bald auch jedem Laien sehr deutlich, dass die schlesische Landeshauptstadt eingekesselt werden sollte. Die militärische Führung hatte die Stadt zur Festung erklärt, was bedeutet, dass sie nicht aufgegeben werden durfte, sondern verteidigt werden musste. Nun saßen wir in der Falle.

Zu unser aller Überraschung wurde uns am Vormittag des 31. Januar ein Befehl des Armeeoberkommandos (AOK) bekanntgegeben, nach dem alle Offiziersbewerber „zur Schonung wertvollen Menschenmaterials“ aus der Festung Breslau zu entlassen seien. Unsere Freude war groß, doch äußerlich durften wir sie nicht zeigen. Wir gingen sofort an das Packen unserer Klamotten. Zusammen mit 3 oder 4 Kameraden erhielt ich den Marschbefehl nach Görlitz, wo wir uns bei einer anderen Einheit zu melden hatten. Mit Marschbefehl und Marschgepäck machten wir uns auf den Weg zum „Freiburger Bahnhof“. Die von dort abgehende Bahnlinie war die einzige Schienenverbindung, die von Breslau aus noch funktionsfähig war. Alle anderen Bahnstrecken waren abgeschnitten, so weit hatte sich der Ring um Breslau bereits geschlossen.

Als wir am Nachmittag am Bahnhof ankamen, standen an der Bahnsteigsperre neben den Bahnbeamten auch die Feldpolizisten, im Soldatenjargon „Kettenhunde“ genannt, und zwar deswegen, weil sie an einer Kette um den Hals ein Schild trugen, das sie als Feldpolizisten auswies. Sie kontrollierten sehr genau unseren Marschbefehl und eröffneten uns dann, dass die Weisung des AOK aufgehoben bzw. rückgängig gemacht sei und wir uns sofort wieder bei unserer Truppeneinheit in Cosel zu melden hätten. Wir waren nicht wenig verdattert, dies zu hören. Es blieb uns nichts anderes übrig als kehrt zu machen. Aber außerhalb des Bahnhofs haben wir uns dann erst einmal gründlich beraten. Wir alle waren kriegsmüde und glaubten längst nicht mehr an die immer noch propagierten Wunderwaffen. Und dann kam uns die große Erleuchtung! Als Breslauer wussten wir, dass sich neben dem Personenbahnhof etwas versetzt der Güterbahnhof befand, der weitgehend frei zugänglich war. Den nahmen wir zunächst einmal in Augenschein. Uns siehe da, dort entdeckten wir zwischen Güterwagen auch einen Personenzug, in dem offensichtlich Leute saßen. Da er noch ohne Lok war, konnten wir das weitere Vorgehen in aller Ruhe überlegen. Dazu haben wir uns erst einmal in einen finsteren Winkel der Güterhallen zurückgezogen. Dann haben wir beschlossen, einen Kundschafter in der beginnenden Abenddämmerung zu dem Zug zu schicken. Der kam dann mit dem Ergebnis zurück, dass es sich um einen von der Deutschen Reichsbahn bereitgestellten Zug handelte, der Angehörige von Eisenbahnern zum Entkommen aus der Festung Breslau verhelfen sollte. Die Zuginsassen waren also Frauen, Kinder und alte Männer. Wir hielten es für richtig, ein Abteil ausfindig zu machen, in dem Frauen saßen, die unsere Mütter sein könnten. Und der „Besatzung“ eines solchen Abteils haben wir uns dann anvertraut und mütterliches Verständnis gefunden. Da der Zug noch immer ohne Lok war, haben wir in der inzwischen eingebrochenen Dunkelheit vorab unser Gepäck unter den Sitzen des Abteils verstaut, neugierigen Blicken durch die langen Röcke und Mäntel der Insassen entzogen. Wir selbst haben uns noch so lange in den Güterhallen versteckt gehalten, bis dem Zug eine Lok vorangestellt wurde. Dann erst sind wir zugestiegen, haben uns aber immer noch hinter Gepäck und Röcken versteckt gehalten. Das Herzklopfen nahm erst ein Ende, als der Zug spät in der Nacht Breslau verlassen hatte und nach vielen Fahrkilometern noch immer keine Kontrolle durch die Abteile gegangen war. Die Fahrt ging nur sehr stockend voran.

Am Morgen, es war schon hell, hielt der Zug in Mettkau, etwa 35 km von Breslau entfernt. Wir erfuhren, dass es einen längeren Aufenthalt geben werde. Ich erinnerte mich meiner Verwandten in diesem Ort, einer Schwester meiner Großmutter mütterlicherseits mit Familie, die hier eine Gastwirtschaft führten. Da beschloss ich, mich zum Frühstück einzuladen und setzte diesen Beschluss gleich in die Tat um. Ich hatte Erfolg. Das Haus war noch nicht geräumt, ich erhielt mein Frühstück und auch noch ein Packerl für die Kameraden. Darüber hinaus hat mir die gute Tante Hedwig (Lindner) eine Pistole in die Hand gedrückt, die einem ihrer Söhne gehörte und die sie aus Sorge, Unannehmlichkeiten zu bekommen, nicht im Haus behalten wollte.

Gestärkt kehrte ich zum Zug zurück, der noch nicht davon gefahren war. Die Reise ging auch anschließend nur langsam weiter. Wir fuhren durch Ingramsdorf, dem Heimatort meiner Mutter, hatten in Saarau einen kurzen Aufenthalt, den ich nutzte, einen Passanten zu bitten meine Mutter zu grüßen und ihr zu sagen, dass wir der Festung Breslau entronnen sind, und kamen dann zum Bahnknotenpunkt Königszelt. Hier verließen wir den „Eisenbahnerzug“ mit tausend Dank an die Frauen, die uns so selbstverständlich „mitgenommen“ hatten und benutzten einen (noch) fahrplanmäßigen Zug nach Görlitz und meldeten uns am 1. Februar in der uns vorgegebenen Kaserne.

Der Aufenthalt war nur kurz. Dabei erfuhren wir viel Unerfreuliches, u. a. dass in dieser Kaserne ein Kriegsgericht tagte, das schon mehrfach Todesurteile verhängt hatte gegen Soldaten die sich – tatsächlich oder angeblich – unerlaubt von der Truppe entfernt hatten. Ein Erschießungskommando sorgte dann auch jeweils gleich für die Urteilsvollstreckung. Wir waren jedenfalls nicht sehr unglücklich, diesen etwas schauerlichen Ort schon am 3. Februar mit einem Marschbefehl zu einer Fronteinheit in der Tschechei im Raum Olmütz verlassen zu können. Wir, das waren 5 ROB-Kameraden, die sich schon länger kannten. Das Reiseziel brachte es mit sich, dass wir bis Königszelt die gleiche Bahnstrecke benutzen mussten, die wir erst kürzlich in der Gegenrichtung passiert hatten.

Da uns jede Frontbegeisterung fehlte, beschlossen wir auf meinen Vorschlag hin in Kö-nigszelt den Anschlusszug sausen zu lassen und erst am nächsten Vormittag weiter zu fahren. Dabei waren wir überzeugt, dass in dem langsam einsetzenden Chaos, ausgelöst durch Frontnähe und Flüchtlingsströme, uns niemand würde nachweisen können, wann genau unser Zug in Königszelt angekommen und wann der mögliche Anschlusszug abgefahren ist. Fahrpläne konnten längst nicht mehr eingehalten werden.

Ich hatte deswegen vorgeschlagen, in Königszelt die Fahrt zu unterbrechen, weil ich noch einmal meine Mutter und Schwester in Saarau sehen wollte. So machten wir uns zu Fuß auf den Weg in den ca. 6 km entfernten Heimatort. Meine 4 Kameraden haben unterwegs in Peterwitz in dem dortigen Gutshof Quartier genommen und ich bin die letzten 2 km alleine weitermarschiert. Das Erstaunen von Mutter und Schwester, mich ganz unerwartet leibhaftig zu sehen, war ganz ungeheuer. Im Augenblick war die Freude groß, doch bald kamen zwangsläufig die Sorgen über die Zukunft hoch. Ich musste in wenigen Stunden weiter, einem ungewissen Schicksal entgegen, und in Saarau wusste niemand, wie lange es noch dauern würde, bis die russischen Divisionen auch diesen Ort überrollen und die Einwohner wegen der zur befürchtenden Brutalitäten vorher zur Flucht zwingen würden. Mit diesen das Innerste aufwühlenden Ungewissheit haben wir versucht ein paar Stunden Schlaf zu finden.

Am nächsten Morgen hat mich meine Schwester Hildegard auf dem Weg zum Bahnhof Königszelt begleitet. In Peterwitz haben wir die Kameraden abgeholt. In der schneebedeckten Landschaft zwischen Peterwitz und Königszelt sahen wir am Rande eines Waldes plötzlich einen Hasen über die Felder hoppeln. Die jugendliche Unbekümmertheit hatte längst wieder Oberhand gewonnen, zumal ein junges Mädchen in unserer Runde war. Ich erinnerte mich der erst kürzlich in Mettkau erhaltenen Pistole und versuchte mich in Schießübungen auf den Hasen, die allerdings ohne Erfolg blieben. In diesen Minuten kam uns auf der Straße aus dem Wald ein Wehrmachtsfahrzeug entgegen, das vor uns Halt machte. Ihm entstieg ein Offizier, der unserer Papiere verlangte. Meine Schwester wurde kreidebleich, ihre Knie begannen zu zittern. Wir bemühten uns, so unbefangen wie möglich zu erscheinen, erzählten die Story vom nicht erreichten Anschlusszug, von der Übernachtung in Saarau bzw. Peterwitz und davon, dass wir auf nun dem Weg zum Bahnhof seien, um so bald wie möglich unsere Einheit zu erreichen. Der Offizier, ein väterlicher Typ, der, wie wir ihn später einschätzten, durchaus Söhne in unserem Alter hätte haben können, sah uns lange schweigend an. Dann gab er uns unsere Papiere zurück und sagte, wir sollten uns auf dem kürzesten Weg zum Bahnhof machen und ja nicht noch einmal eigenmächtig die Züge und Bahnhöfe verlassen. Ein wenig weiche Knie hatten wir inzwischen alle miteinander, denn uns war das Kriegsgericht in Görlitz und das Erschießungskommando noch in frischer Erinnerung.

Von Königszelt fuhren wir über Kamenz und Glatz nach Olmütz und von da weiter nach Prossnitz. Dort erfuhren wir, dass die Fronteinheit, bei der wir uns melden sollten, total auf-gerieben war. Wir erhielten deshalb Befehl, mit dem kläglichen Rest der Truppe über Prag und Dresden nach Görlitz zurückzufahren. Hier wurden wir zusammen mit anderen verschlagenen Truppenteilen dem Pionierbatailon 10 zugeteilt und in Marsch Richtung Front gesetzt. Diese Marschbewegungen erschienen uns recht planlos. Zuerst ging es viele zig Kilometer zu Fuß in Richtung Osten, immer wieder vorbei an langen Flüchtlingskolonnen. Dann wieder wurden wir auf Fahrzeuge verfrachtet und über Hirschberg-Bolkenhain nach Rohnstock verfrachtet. Kaum hatten wir Quartier gemacht, wurden wir in den Nachbarort Dätzdorf verlegt, wo Vaters jüngster Bruder Alfons wohnte. Die Dörfer waren bereits geräumt, da ganz in der Nähe die Front verlief. Von Dätzdorf aus wurde mein ROB-Kamerad Heinrich Himmel einem Spähtrupp zugeteilt, von dem er nicht mehr zurückkehrte. Das berührte zutiefst.

Ich selbst ging in diesen Tagen einmal durch den Ort, sah plötzlich zwei Radfahrerinnen die Straße entlangfahren und glaubte meinen Augen nicht zu trauen, als ich in einer der beiden Frauen meine Tante Lenchen – die Frau von Vaters Bruder Alfons – erkannte. Ihr ging es umgekehrt genau so. In dem kurzen Gespräch erfuhr ich, dass sie schon vor ein paar Tagen zusammen mit den übrigen Dorfbewohnern ihr Domizil verlassen, jedoch auf der Flucht nicht allzu viele Kilometer weiter einen ersten Zwischenaufenthalt eingelegt hatte. Von dort ist sie dann mit einer Bekannten mit dem Fahrrad aufgebrochen, um noch einige ihr wichtig erscheinende Sachen aus der Wohnung zu holen, denn ihr war bekannt geworden, dass die Front Dätzdorf noch nicht erreicht hatte. So kam es zu dem völlig überraschenden Treffen.

Unsere Einheit wurde in den nächsten Tagen im Raum Jauer noch ein paarmal hin und her geschoben, bis wir dann bei Konradswaldau südlich von Goldberg in Stellung gingen. Ich war als MG-Schütze II eingeteilt. Die Frontlinie hatte sich hier stabilisiert, so dass wir uns eingraben mussten. Bei dem herrschenden Frost war das Graben der Schützenlöcher keine leichte Arbeit. Die Löcher fielen daher auch entsprechend klein aus. Nachdem wir wieder einmal zu zweit eine ganze Nacht fast ohne Schlaf hinter dem MG ausgeharrt hatten, überfiel mich am Morgen des 25. Februar eine ungeheure Müdigkeit. In unserem Frontabschnitt war es ruhig. Wir lagen in einem nicht sehr dicht bewaldeten Hang, in dem gegenüber liegenden Hang der Russe. Ich entdeckte in der Nähe unseres Schützenloches eine Mulde, die feindseitig mit einem größeren Stein abgeschlossen war. In diese Mulde robbte ich, um ein wenig zu schlafen. Wie lange dieser Schlaf dauerte weiß ich nicht mehr. Jedenfalls wurde ich abrupt von dem Getöse ringsum einschlagender Granaten geweckt. Es war unmöglich, ins Schützenloch zurückzukommen. Was blieb war, so flach wie möglich am Boden liegen zu bleiben. Plötzlich spürte ich an meinem linken Oberschenkel einen stechenden Schmerz! Ich musste getroffen worden sein. Die Mulde war also nicht tief genug. Zum Glück ließ der Feuerüberfall bald nach. Ich wagte es, mich umzudrehen und ein wenig hochzubeugen und sah, dass mein Hosenbein blutdurchtränkt war. Der Versuch, das Bein zu rühren, scheiterte. Damit war mir klar, dass ich mich mit eigener Kraft nicht in Sicherheit bringen konnte. Also musste ich um Hilfe schreien. Auf meinen Ruf hin kamen, nachdem die Granatwerfer schwiegen, zwei Kumpel, die mich über den Rücken des Hanges, in dem wir lagen, schleppten. Dort waren wir zunächst einmal soweit in Sicherheit, als wir vom Feind nicht mehr eingesehen werden konnten. Jetzt war für die beiden Kameraden auch Gelegenheit mir einen Notverband anzulegen. Mit diesem versehen gelangte ich teils humpelnd, teils von den Kumpels getragen, zu dem nicht weit entfernten Truppenverbandsplatz in Konradswaldau. Hier wurde der Notverband durch einen besseren ersetzt und bald lag ich im Sanka, der mich zum Hauptverbandsplatz nach Kaufung brachte. Der Aufenthalt dort währte nur kurz. Am Morgen des 26. Februar wurde ich erneut in einen Sanka verstaut, der mich über die Krankensammelstelle in Ketschdorf ins Kriegslazarett nach Hirschberg transportierte. Die Möglichkeiten für eine Operation waren offensichtlich sehr eingeschränkt, denn schon am nächsten Morgen, also am 27. Februar, stand erneut ein Weitertransport an, und zwar diesmal mit der Bahn. Im Zug erfuhren wir, dass die Hauptverbindung aus Hirschberg nach Westen in Richtung Görlitz wegen Feindeinwirkung nicht mehr benutzbar war. Zum Glück gab es noch eine Ausweichroute in Gestalt einer eingleisigen Nebenbahnstrecke, die über Schreiberhau, den Pass zwischen Iser- und Riesengebirge und weiter über Gablonz und Reichenberg nach Zittau führte. Hierhin also brachte uns der Zug und wir waren froh, wieder einige Kilometer mehr der Front entrückt zu sein.

Am 28. Februar wurde ich im Kriegslazarett in Zittau operiert. Als ich aus der Narkose – es war eine Äthernarkose – erwachte, spürte ich, dass etwas an meinen Daumen hin gebunden war. Mit Hilfe der Schwester, die mein Erwachen überwachen musste, lösten wir das „Päckchen“ und banden es auf. Darin befand sich ein nicht gerade kleiner Granatsplitter, der bei der Operation entfernt worden war, und den mir der Arzt wohl als „Souvenir“ erhalten wollte. Ich habe ihn übrigens durch alle späteren Wirrnisse hindurch bei mir getragen und bis auf den heutigen Tag aufgehoben. Dieses Stück Eisen war ja schließlich Bestandteil dessen, was man damals „Heimatschuss“ nannte und das Ende des Fronteinsatzes bedeutete.

Der durch die Verwundung bedingte starke Blutverlust und die Operation hatten mich geschwächt, so dass ich einige Tage lang nur mehr oder weniger dahingedöst habe. Erst am Morgen des 5. März, also am Morgen meines 19. Geburtstages, hatte ich Anlass, etwas munterer zu werden. Am Nachttisch stand nämlich ein kleiner Blumenstrauß, den mir die Stationsschwester als Geburtstagsgruß hingestellt hatte. Das war eine so überraschende und so liebe Geste, die ich bis heute nicht vergessen habe.

Schon fünf Tage später, nämlich am 10. März, stand wieder ein Ortswechsel an, der end-gültig das Absetzen von der Ostfront bedeutete und uns damit eine große Last von der Seele nahm; denn in russische Gefangenschaft zu geraten galt für uns alle als Horrorvision. An jenem 10. März also wurde ich in einen Lazarettzug verladen, der nach Miltenberg am Main auf den Weg gebracht wurde. Die Fahrt führte unter anderem über Dresden und Würzburg, über Städte, die von den Bombenangriffen der Alliierten unbeschreibliche Schäden davongetragen hatten. Die Bilder des Grauens und der Zerstörung haben sich sehr tief in mein Gedächtnis eingeprägt.

Am 13. März kam der Lazarettzug in Miltenberg an. Meine Bleibe für die nächste Zeit war das Reservelazarett in dieser Stadt, untergebracht in Gebäuden einer ehemaligen Arbeitsdienstführerschule. Hier waren wir zwar weit weg von der Ostfront, dafür aber immer wieder Fliegerangriffen ausgesetzt, die die gehfähigen in den Luftschutzkeller zwangen. Ich selbst war zu dieser Zeit noch gehunfähig, da mein verwundetes Bein leicht abgewinkelt in eine Schiene gebunden war, und musste somit auch während des Fliegerangriffs im Krankenzimmer bleiben.

Es war dies die Zeit, in der der unselige Krieg sich rasant seinem Ende zuneigte. Die Deutschen befanden sich an allen Fronten auf dem Rückzug. Mit allen Mitteln versuchte man das Vordringen des Feindes zu verzögern, vielfach auch mit unsinnigen Mitteln. So geschehen auch in Miltenberg, wo man kurz vor dem Einmarsch amerikanischer Truppen die beiden Brücken dieser Stadt, nämlich eine Eisenbahnbrücke und eine Straßenbrücke – eine gestalterisch gelungene Sandsteinbogenbrücke – noch gesprengt hat. Unsinnig war dies deshalb, weil die Amerikaner von Norden, also von Aschaffenburg her, bereits beiderseits des Mains auf Miltenberg vorgestoßen sind. Der Vormarsch traf kaum noch auf Widerstand. Nach den nur spärlich durchsickernden Informationen befanden sich lediglich einige versprengte SS- und Volkssturmeinheiten in der Region Miltenberg. Das hatte auch dazu geführt, dass der Chefarzt unsere Lazaretts der ranghöchste Offizier in Miltenberg war.

Am 30. März standen die amerikanischen Truppen kurz vor Miltenberg. Alle nicht gehfähigen Verwundeten wurden in den Keller des Lazaretts verlegt. Am frühen Morgen des 31. März standen die Amis vor dem Lazarett, an dem die weiße Fahne gehisst worden war. Der Chefarzt übergab quasi als Stadtkommandant Miltenberg den Siegermächten. Und wir hatten bald darauf erstmals amerikanische Soldaten vor Augen. Mit der Maschinenpistole im Anschlag gingen sie durch alle Räume, um sie nach Waffen zu durchsuchen. Es war schon ein merkwürdiges Gefühl, in den Lauf einer MP blicken zu müssen, es war aber auch ein erleichterndes Gefühl zu wissen, dass für uns der Krieg nun endgültig vorüber war, und nicht zuletzt war es wiederum ein bedrückendes Gefühl, ab sofort Kriegsgefangener mit einer völlig ungewissen Zukunft zu sein.

Von diesen Gefühlen hin und her gerissen machte plötzlich die Nachricht die Runde, dass die in der Stadt einmarschierenden Amerikaner im Zentrum der Stadt mit Gewehrfeuer empfangen worden seien. Der Kommandeur der amerikanischen Truppen habe sofort zum Rückzug befohlen und den Chefarzt der Lüge bezichtigt. Außerdem habe er angekündigt, dass er Miltenberg mit Artilleriefeuer belegen werden, bis sich kein Widerstand mehr rührt.

Bange Minuten und Viertelstunden des Wartens und Sich-Sorgens vergingen. Dann kam die erlösenden Nachricht, dass es unserem Chefarzt gelungen war, den Truppenführer der Amis dazu zu überreden, mit ihm in die Stadt zu fahren – das Lazarett lag am nördlichen Ortsrand -, um zu klären, woher das Gewehrfeuer komme, denn nach seiner Kenntnis befänden sich keine deutschen Truppen mehr in Miltenberg. Was man dann feststellte gehört für mich mit zu den traurigsten Kapiteln deutscher Kriegsgeschichte. Im Keller des Rathauses hielt sich eine kleine Gruppe von „Hitlerjungen“ auf, etwa 15 Jahre alt, zum Volkssturm einberufen und ideologisch so verbogen, dass sie glaubten, mit ihrem Gewehrfeuer „für Führer, Volk und Vaterland“ noch etwas Gutes, ja Heldenhaftes tun zu können. Der Chefarzt hatte sie bald zur Übergabe der Gewehre überredet und Miltenberg vor der Zerstörung in letzter Kriegsminute bewahrt.

Für uns begann eine neue Freiheit. Wir durften aus dem Keller, es gab keine Fliegerangriffe mehr, die Verpflegung wurde besser und reichlicher. Wir lernten Corned Beef, Ham and Eggs, Lucky Strike und vieles mehr kennen, was uns noch Jahre begleiten sollte. Im Lazarett wurden neue Hilfskräfte angestellt, die zum Teil aus den Ostgebieten kamen. Ich erinnere mich an ein etwa 18-jähriges Mädchen aus Breslau, die bei uns auf der Station zur Unterstützung der Krankenschwester beschäftigt war. Ihre Erzählungen von Flucht, Hunger und bitterer Kälte ließen mich oft an meine Mutter und Schwester denken.

Meine Wunden begannen zu heilen. Ich wurde die Schiene los und konnte die ersten Gehversuche mit Krücken machen. Das gelang am Anfang nur mit Unterstützung der Schwester oder von Kameraden. Doch mit der Zeit ging es immer zügiger und besser und eines Tages auch ohne Krücken und nur noch mit Stock. Gymnastik trug dazu bei, dass das steif gewordene Bein allmählich beweglicher wurde und sich langsam auch immer besser abbiegen ließ.

Am 8. Mai war der Krieg durch Kapitulation der deutschen Truppen endgültig zu Ende. Hoffnung keimte auf, vom Lazarett aus aus Gefangenschaft entlassen zu werden. Diese Hoffnung erreichte ihren Höhepunkt am 18. Mai, als eine Gruppe von weitgehend Genesenen, darunter ich, zum Transport in ein Entlassungslager zusammengestellt wurde. Auf Sattelschleppern verladen ging die Fahrt gen Süden und endete in Heilbronn.

Hier begann eine furchtbare Ernüchterung. Wir landeten in einem freien Gelände, das durch Stacheldraht in viele rechteckige Felder (Käfige) eingeteilt war, in denen sich schon Hunderte und Tausende von Gefangenen befanden. In einem solchen „Käfig“ (cage) landeten auch wir. Keine Baracke, kein Zelt, nichts befand sich darauf. Wir hatten ein jeder vom Lazarett nur eine Decke dabei, mit der wir die Kälte der Nacht abzuwehren versuch-ten. Das gelang selten. Häufig sind wir stundenlang umhergegangen, um uns so warm zu halten. Die Verpflegung war dürftigste, das große Hungern begann. Nicht nur vor der Kälte hatten wir uns zu schützen sondern auch vor Regen. Dies war nämlich eines der größten Probleme. Zelte gab es ja, wie gesagt, keine. Wir haben dann das Problem so gelöst, dass wir jeweils zu zweit mit amerikanischen Konservenbüchsen tagelang Löcher in die Erde gegraben haben, die seitlich Ausbuchtungen erhielten wie die Grüfte von Katakomben. Das waren unsere Schlafhöhlen. Über den Löchern waren die Decken gespannt, die Kälte und Feuchtigkeit ein wenig zurückhielten. Für die nicht aufzuhaltende Feuchtigkeit war der mittlere Teil des Loches tiefer angelegt, damit sich das eindringende Wasser dort sammeln konnte. Das ganze sah dann im Schnitt in etwa so aus:

Zeichnung

Zeichnung

Diese Zeit war furchtbar. Nachts hörte man ab und zu Schüsse und sah dann wenig später, wie wieder einmal ein Kamerad abtransportiert wurde, der vom Lagerkoller übermannt geglaubt hat, den Stacheldraht überwinden zu können.

Heute weiß man, dass die Lager in Bad Kreuznach und Heilbronn zu den schrecklichsten Gefangenenlagern der Amerikaner auf deutschem Boden gehörten.

Meine Verwundung machte mir immer noch Schwierigkeiten insoweit, als das linke Kniege-lenk nicht voll beweglich war. Es gab ja auch keine Massage mehr, so dass der Gang ein wenig humpelnd war. Doch eines schönen Tages war ich aus gegebenem Anlass plötzlich gewillt, das Humpeln zu überspielen und zu vergessen. Der Anlass war ganz einfach der, dass die Amis eines Tages die Mitteilung im gesamten Lager verbreiten ließen, dass man gesunde und arbeitsfähige Leute für einen Ernteeinsatz im süddeutschen Raum suche. Ich meldete mich sofort, da ja die Hoffnung bestand, endlich dem furchtbaren Hungern und dem unmenschlichen Campieren zu entrinnen. Da ich jung war und einen gesunden Eindruck machte, wurde ich in die Schar der „Auserwählten“ eingereiht.

Am 21. Juni wurden wir zusammengetrommelt und in langer Kolonne durch die Stadt Heil-bronn bzw. das was von ihr übrig geblieben war, zum Bahnhof geleitet, bewacht von schwer bewaffneten Amis. Am Bahnhof stand ein langer Güterzug für uns bereit. Je 40 Gefangene wurden in einen Waggon getrieben, wobei die Amis mit Gewehrkolbenschlägen für eine Beschleunigung des Einsteigens sorgten. Und da hockten wir nun, je 20 auf jeder Seite des Waggons und warteten darauf, dass der Zug bald abführe und wir möglichst bald irgendwo bei einem Bauern uns nützlich betätigen könnten.

Irgendwann fuhr der Zug ab. Durch die spärlichen Lüftungsschlitze der Waggonwand konnten wir anhand des Sonnenstandes immerhin feststellen, dass die Fahrt in Richtung Süden ging. Trotz der beängstigenden Enge waren wir gehobener Stimmung. Doch die währte nicht sehr lange. Irgendwo im Raum Bruchsal merkten wir, dass die Fahrtrichtung Süd sich plötzlich in eine solche nach Westen änderte. Und als wir schließlich den Rhein überquerten war und klar, dass unsere Siegermächte uns ein zweites Mal getäuscht, um nicht zu sagen schamlos betrogen, hatten. Der erste Betrug war das versprochene Entlassungslager und der zweite der nicht eingehaltene Ernteeinsatz. Uns war inzwischen längst bewusst geworden, dass wir nach Frankreich transportiert werden und dass wir uns auf eine lange Reise einzustellen hatten. Dafür galt es sich nun zu arrangieren. Zunächst einmal wurde getestet, ob wir alle gemeinsam schlafen konnten. Ein Probeliegen ergab, dass das möglich sein musste unter der Voraussetzung, dass alle auf der Seite – nicht auf dem Rücken – lagen, dass natürlich alle auf der gleichen Seite lagen, und dass ein Wenden auf die andere Seite nur gemeinsam möglich war. In dieser Notsituation war für jeden ohne Murren einsehbar, dass nur unter Anpassung an die Zwänge die nächsten Tage zu überstehen sein würden.

Das andere und wohl noch größere Problem war die Verrichtung der Notdurft. Der Güter-wagen war ja normal für den Viehtransport bestimmt und enthielt damit auch kein WC. Was blieb anderes übrig, als ein Loch in den Boden des Waggons zu schnitzen. Irgend-welche Kumpels hatten irgendwelche Geräte dabei, mit deren Hilfe man den Holzdielen des Bodens her werden konnte. In stundenlanger Kleinarbeit bei ständig wechselndem Arbeitseinsatz war dann endlich ein Loch gebohrt (geschnitzt) und damit eine „Entsorgung“ möglich. Irgendwer hatte auch eine entsprechend große und leere Konservenbüchse dabei, die dann reihum als WC benutzt wurde.

Die Fahrt dauerte lange und die „Fahrgäste“ wurden zunehmend apathisch. In Deutschland wie in Frankreich gab es enorme Schäden auch an den Bahnanlagen, so dass man von al-lem anderen als einem geordneten Bahnbetrieb reden konnte. Froh waren wir, wenn bei einem längeren Zwischenaufenthalt einmal die Waggontore weit geöffnet wurden und wir fri-sche Luft tanken konnten. Die schwer bewaffneten Amis, die am Zug entlang marschierten, gehörten inzwischen zu unserem Alltag.

Am 24. Juni landeten wir in einem Bahnhof, von dem wir bald merkten, dass er die Endsta

-tion unserer Reise war. La Fleche war an den Schrifttafeln zu lesen. Von alten Landsern, die schon den Frankreichfeldzug mitgemacht hatten, verbreitete sich bald die Information, dass wir uns in der Nähe von Le Mans in Mittelfrankreich befänden. Wir mussten (Gott sei Dank!) die Viehwaggons verlassen und wurden zu einer langen Marschkolonne zusammengestellt. Die Kolonne setzte sich durch bebautes Gebiet in Bewegung. Immer wieder „begrüßten“ uns am Straßenrand Franzosen mit den Worten „boche“. was heißt „du deutsches Schwein“. Schließlich landeten wir in einem großen, stillgelegten Industriegebäude, in dem wir auf verschiedene Hallen verteilt wurden. Ich selbst gelangte in eine Halle, die mit einem Zementfußboden ausgestattet war. Dieser Boden war entsetzlich hart und ekelhaft kalt. Mit einer einzigen Decke, die eines jeden karger Besitz war, konnte man sich weder gegen Härte noch gegen Kälte wirksam schützen. Ein weiteres Mal durften wir uns darüber wundern, was ein Mensch alles aushält.

Nur wenige Tage nach der Ankunft in La Fleche spürte ich eine Beule an meinem linken Oberschenkel. Ich informierte unseren „Lagerältesten“, der wiederum die amerikanische Lagerleitung unterrichtete. Diese lieferte mich zunächst am 30. Juni in das PW (prisoner of war) – Hospital in La Fleche ein. Da sich die Beule als Abszess herausstellte, der operiert werden musste, wurde ich am 3. Juli mit einem LKW in das Generallazarett für Gefangene in Le Mans eingeliefert. Dieses Lazarett war eine Zeltstadt, geleitet von amerikanischen Ärzten und Schwestern. Schon am 4. Juli kam ich unters Messer. Die damals übliche Äthernarkose war widerlich. Immerhin wurde der Abszess, der nach Auskunft der Ärzte auf eine Verunreinigung bei der Verwundung zurückzuführen war, erfolgreich entfernt. Ich genoss die Tage bei ausgezeichneter Verpflegung und erholte mich sehr schnell. Bald durfte ich aufstehen und im Lazarett umhergehen. Mir bleibt unvergessen, dass ich nicht nur die amerikanischen Ärzte mit militärischem Gruß zu grüßen hatte, sondern auch die leitenden Schwestern, die im Offiziersrang standen. Meine Genesung machte zum Glück (oder leider?) so rasche Fortschritte, dass meine baldige Entlassung bevorstand. Bei uns im Lazarett hatte sich herumgesprochen, dass das Lager in La Fleche von den Amerikanern an die Franzosen übergeben worden sei. Einerseits waren wir froh, andererseits wussten wir nicht, was nun auf uns zukommen würde.

Am 16. Juli wurde ich aus dem Lazarett entlassen und landete in einem Gefangenenlager bei Le Mans. Der Standart dieses Lagers war bereits besser als der jener Lager, die ich bisher kennengelernt hatte. Die Einteilung entsprach derjenigen in Heilbronn, also eine Gliederung in zahllose „Käfige“ (cage), die allerdings mit Wellblechbaracken bestückt waren. In einem solchen cage landete ich und machte mich mit den Kumpels bekannt.

Dabei erfuhr ich sehr schnell, dass ich in einem „Käfig“ gelandet war, in dem ausschließlich Angehörige der ehemaligen Waffen-SS untergebracht waren. Ich war entsetzt! Diese Einheiten waren so in Misskredit geraten, dass ich um mein persönliches Wohl fürchtete. Alle meine Bemühungen, mit Einschaltung des Lagerältesten dieser Einheit zu entkommen, blieben erfolglos. Ich litt darob seelische Qualen. Dazu kamen körperliche ob der sommerlichen Hitze in den Blechbaracken, in denen es auch nachts nur geringe Abkühlung gab.

Die Qualen dauerten nicht lange. Am frühen Morgen des 26. Juli wurden wir durch Lautsprecher aufgefordert, innerhalb kurzer Zeit mit all unseren Klamotten, und das waren nicht viele, auf dem Lagerplatz zum Appell anzutreten. Was würde wohl wieder auf uns zukommen? Während wir uns zum Appell aufstellten, merkten wir, dass auch in einem der Nach-barlager Bewegung war wie bei uns. Es war der „Käfig“ oder das cage, in dem Schwerver-wundete untergebracht waren. Wir sahen, wie sich die „armen Hunde“, Beinamputierte, Armamputierte, Gebeugte, Hinkende und andere Angeschlagene langsam sammelten. Hüben wie drüben wurde gezählt, verglichen, wiederum gezählt und wieder verglichen und endlich löste sich die Spannung. Es wurde Marschbefehl erteilt. Unser weitgehend gesunder Haufen und die nebenan untergebrachten „Krüppel“ setzten sich in Bewegung. Sonst niemand! Als wir das Lagertor passierten, wurde zu unserer Rechten das Sternenbanner niedergeholt und zu unserer Linken die Trikolore gehisst. In diesem Augenblick wussten wir, dass das Lager von den Amerikanern an die Franzosen übergeben worden war. Wir schätzten die Amerikaner mehr als die Franzosen, hatten Verständnis dafür, dass die Verwundeten von der Übergabe ausgenommen wurden und waren froh, dass dies auch für die SS-Einheiten galt, obwohl wir dafür keine Erklärung hatten. Ich jedenfalls hatte es in diesem Augenblick nicht mehr bedauert, den SS-Einheiten zugeschlagen worden zu sein. Auf die Frage, wie es dazu kam, habe ich für mich die Antwort gefunden, dass ich mit 1,84 m Körpergröße das „Gardemaß“ hatte, und dass zum anderen mein Schuhwerk, bestehend aus „Knobelbechern“, sprich Kommissstiefeln, für die Amis die Vermutung nahelegte, dass ich SS-Mann gewesen sein müsse.

Wieder einmal marschierten wir zum Bahnhof! Wieder einmal wurden wir in Güterwagen untergebracht! Diesmal handelte es sich um offene, die die „Entsorgungs“-probleme erleichterten. Am 26. Juli setzte sich der Transport in Richtung Norden in Bewegung. Unter-wegs erfuhren wir in drastischer Weise den Hass der Franzosen auf die Deutschen. Irgend-wo unterwegs passierten wir eine Straßenüberführung, auf der Menschen versammelt waren. Offensichtlich waren dort Eisenbahnschwellen gelagert, denn wir konnten beobachten, wie mehrfach je 2 Personen solche Schwellen aufnahmen und über das Brückengeländer auf den Zug warfen. Einige Kilometer weiter hielt unser Zug in einem Bahnhof. Wir konnten beobachten, wie 2 Menschen (tot oder verletzt?) abtransportiert wurden. Ob sich wohl nach dem damaligen Hass eine deutsch-französische Freundschaft auf Dauer behaupten kann?

Das Ende diese Transports war Cherbourg. Wir wurden in ein Lager eingeliefert, dass hoch über der Stadt mit weitem Blick über das Meer lag. Das Lager trug die Nummer 24, die erste Unterbringung war in cage 30. Hier geschah, wie mir erste jetzt klar wurde, etwas wichtiges, ich wurde nämlich registriert. Ich erhielt am 15. August die Gefangenennummer 31 G 2 727 878. Da ich noch mein Soldbuch besaß und zudem keine Einbrennungen unter der Achsel hatte, wie das bei allen SS-Angehörigen der Fall war, durfte ich den „SS-Käfig“ verlassen und mich im cage 17 bei Wehrmachtsangehörigen einreihen. Ich durfte damals auch eine vorgedruckte Karte als Mitteilung an die Angehörigen ausfüllen. Dabei war nur die Frage, wohin ich die Karte schicken sollte? Es hatte sich längst herumgesprochen, dass die Siegermächte die Gebiete östlich der Oder und Neiße unter polnische Verwaltung gestellt hatten. Unser Wunschtraum, dass es sich dabei um die Glatzer Neiße handeln könne, war längst zerronnen. In diesem Fall wäre mein Heimatort Saarau nämlich nicht der polnischen Verwaltung unterstellt worden. Mit der Neiße war aber die Lausitzer Neiße gemeint und damit war auch meine Heimat unter polnischer Verwaltung. Was also mit der Karte tun? Nach einigem Zögern habe ich sie einfach an meine Heimatadresse Saarau, Kreis Schweidnitz, Gartenstraße 11 adressiert. Ob sie wohl je meine Angehörigen erreichen würde? Ich konnte u. a. ankreuzen, dass ich leicht verwundet war und dass es mir gut gehe.

In Cherbourg wurde ich noch weitere 2 x verlegt, nämlich von cage 17 nach cage 9 und dann nach cage 2. Mehrere Begebenheiten aus dieser Zeit sind mir noch deutlich in Erinnerung. Eine solche hat mit dem Hunger zu tun, der uns auch in diesem Lager geplagt hat. Es war bereits mit – wenn auch primitiven Duschen – ausgestattet. Eines Tages stand ein einst sicher wohlbeleibter ehemaliger Zahlmeister unter der Dusche. Dieser hatte so stark abgenommen, dass sich die Bauchhaut in zahlreiche senkrechte Falten gelegt hatte, die bei jeder Bewegung hin und her schwabbelten.

Ein anderes Erlebnis war viel deprimierender. Wir waren in größeren Zelten untergebracht. Zwischen den Zeltstangen hatten wir Schnüre gespannt, auf denen wir unsere Wäsche und unser Geschirr getrocknet haben. Wenn das Geschirr, überwiegend Konservenbüchsen, überwog, dann hat es bei Bewegung der Leine mehr oder weniger gescheppert. Ein Kumpel hatte dies bald registriert, daran Spaß gefunden und von Tag zu Tag mehr gescheppert. Bald hatten wir gemerkt, dass dies krankhaft war. Und da wir auf diese krankhafte Entwicklung keinen Einfluss nehmen konnten, wurde dieser Kumpel eines Tages zur Behandlung abgeholt und kehrte nie wieder.

Ein weiteres ist mir noch in Erinnerung. Im Lager Cherbourg wurden unter anderem katholische Gottesdienste angeboten. Ich sehe noch ganz deutlich vor mir, dass damals der allergrößte Teil der katholischen Lagerinsassen – und nicht nur der – an den Gottesdiensten teilgenommen hat. Es waren eindrucksvolle Viertelstunden. Hat das etwas mit dem Sprichwort zu tun, dass Not beten lehre? Aus dieser Zeit besitze ich noch die erste Bibel der Nachkriegszeit, herausgegeben von der amerikanischen Kriegshilfe „Nationale Katholische Wohlfahrts-Konferenz, Kriegsgefangenen-Hilfe, 350 Fifth Avenue, New York 1, N.Y., USA“. Der Lagerpfarrer hatte mir damals in das Exemplar dieser Bibel folgende Sätze geschrieben:

„Wenn jemand mein Wort bewahrt, wird er den Tod in Ewigkeit nicht schauen.“ Joh.8.51. „Nimm und lies und gib es weiter den anderen Kameraden!

Gefangenenlager 24

Cherbourg, August 1945

Der katholische Lagerpfarrer“

Schließlich hat sich meinem Gedächtnis noch unauslöschbar eingeprägt, dass ich in jenen Wochen einen Kumpel kennengelernt hatte, der wie ich Gymnasiast ohne Abitur war, also etwa gleichaltrig, und aus Dresden stammte. Um dem Stumpfsinn jener Tage zu entrinnen, haben wir auf irgendwie organisiertem Papier englische Vokabeln, mathematische Formeln u. ä. aufgeschrieben. Wir waren uns einig, dass wir nicht verblöden durften.

Und eines Tages endete auch die Zeit in Cherbourg. Am 19. Sept. wurden wir wieder einmal verladen und nach Lüttich in Belgien transportiert. Hier kamen wir am 21. Sept. an und wurden in einer alten Fabrik mitten in der Stadt untergebracht. Jeden Tag ging es zum Arbeitseinsatz in den Hafen. Unsere Aufgabe war, Material, das per Schiff angeliefert wurde, zu entladen, zwischenzulagern oder gleich auf Bahn oder LKW zu verladen. Diese Arbeit war anfangs eine enorme körperliche Belastung. Doch allmählich hat man sich aufgrund besserer Verpflegung daran gewöhnt. Die trotz Besserung noch vorhandenen Mängel an Verpflegung haben wir durch „Diebstahl“ ausgeglichen, denn im Hafen von Lüttich wurde überwiegend Verpflegung umgeschlagen.

Bei unseren „Diebstählen“ haben uns oft auch die schwarzen Amerikaner geholfen. Diese fuhren meist die Sattelschlepper. Wenn wir auf „Diebestour“ waren, haben sie Schmiere gestanden und das „Diebesgut“ haben wir dann 50 : 50 geteilt. Einmal hat ein Neger zu mir gesagt:: „Ich schwarzes Schwein, du weißes Schwein, wir beide Sklaven von Ami!“ Damit wollte er wohl zum Ausdruck bringen, dass es „Sklaven“ erlaubt sein muss, sich vorenthaltene Rechte mit Gewalt oder List zu nehmen.

Da in jener Zeit, und nicht nur da, das einzig Beständige die Veränderung war, wurden wir am 30. Nov. von der Fabrik in einen Schießstand verlegt. Die einzelnen Bahnen waren durch Maueren gegeneinander abgegrenzt. An die Mauern hin waren primitive Buden gebaut, in denen dreistöckige Pritschen standen. Wir mussten wenigstens nicht auf dem blanken Boden schlafen.

Der Ortsveränderung folgte auch eine Änderung der Tätigkeit. Nicht mehr der Hafen war unser Arbeitsplatz, sondern eine alte belgische Kaserne, in der die Amerikaner untergebracht waren. Dorthin wurden wir eines Morgens gekarrt. Wir sahen bald, dass hier noch viel Aufräum- bzw. Renovierungsarbeit zu leisten war. Und dafür war es notwendig, die richtigen Leute an den richtigen Platz zu stellen. Dazu begann eine große Befragung. Erstaunlicherweise wurde als erstes nach Köchen gefragt. Nie wieder habe ich so viele Leute auf einem Haufen gesehen, die von sich behauptet haben, Koch zu sein. Kein Wunder auch, denn satt zu essen hatten wir in den letzten Wochen noch lange nicht. Die Amis hatten sich einige „Köche“ rausgepickt und sie dann bald rigoros ausgewechselt, wenn sich herausstellte, dass sie zur Arbeit in der Küche der Kantine ungeeignet waren.

Die andere Aufteilung ging dann schneller und reibungsloser. Maurer, Maler, Zimmerer, Schreiner, Schmiede usw. waren bald gefunden und zur Aufbauarbeit eingeteilt. Nun stand noch ein kleines Häufchen da, das noch untergebracht werden musste. Von diesem Häufchen wollte man wissen, ob jemand Glaser sei. Keiner meldete sich! Die erneute Frage war dann schon anspruchsloser, dann man wollte nur noch wissen, wer Fenster einglasen könne. Zunächst wieder keine sofortige Reaktion. Neben mir stand ein älterer Kamerad, vielleicht Anfang 30, der mich aufforderte mit ihm zusammen zu „glasen“. Ich ließ mich überreden, hatte aber kein gutes Gefühl dabei.

Das sollte sich aber bald legen. Wir wurden in die Kaserne geführt und nahmen jetzt erst wahr, dass zahllose Fensterscheiben kaputt waren. Dem musste abgeholfen werden, stand doch der Winter vor der Tür. In der Kaserne fanden wir alles vor, was für unsere Arbeit notwendig war. Glas und Kitt in Fülle, die besten Glasschneider und das sonst notwendige Werkzeug. Und so gingen wir an die Arbeit. Der Kamerad hatte schon gewisse Erfahrung, ich musste sie erst sammeln. Dabei ging anfangs manches Stück Glas kaputt, was aber bei den Amis überhaupt keine Rolle spielte. Bald waren wir ein eingearbeitetes Team, und die Arbeit ging flott voran. Es dauerte nicht lange, da kamen einige Amis auf uns zu, die bevorzugt behandelt werden wollten. Bei diesen Gesprächen kamen mir meine Englischkenntnisse von der Schule zugute. Damit gelang es dann auch zu handeln, also Bevorzugung bei Gegenleistung, sprich etliche Schachteln Zigaretten, eine Dose Ananas o. ä.. Auf diese Weise kam dann bei uns im Lager ein ganz schöner Warentausch zustande. Die jetzt bessere Versorgung ließ uns auch das Weihnachtsfest 1945 in Gefangenschaft leichter überstehen. Durch den Arbeitseinsatz außerhalb des Lagers war es einigen Kumpels sogar gelungen, einen Christbaum und Christbaumschmuck zu organisieren.

Schon einen Monat nach Weihnachten ging die Zeit in Lüttich zu Ende, die Entlassung aus der Gefangenschaft war in Sicht. Am 25.1.46 wurden wir mit sog. Lastenseglern, also großen Trucks, in das Gefangenenlager Namur, DDPWE # 18, cage 3 transportiert. Hier hatten wir offensichtlich irgendwelche organisatorischen Maßnahmen abzuwarten, bis wir dann am 25.2.46 in einen Zug verfrachtet wurden. Und der brachte uns zurück nach Deutschland, nämlich über Lüttich, Aachen, Bonn, Remagen, Koblenz, Mainz und Gießen nach Marburg, wo wir am 7.2. ankamen. Untergebracht waren wir in Zelten, die beidseits einer langen Lagerstraße aufgestellt waren. Das Zeltlager befand sich in unmittelbarer Nähe eines Bahngleises. Mein Kumpel aus Dresden war in einem Zelt auf der anderen Seite der Lagerstraße einquartiert. Er hatte mir angeboten, mich nach Dresden entlassen zu lassen, da ich keinerlei andere Möglichkeit hatte. Meine Bedenken, dass das elterliche Haus in Dresden zerstört sein könne und dass seine Eltern bei den schweren Bombenangriffen Anfang 1945 ums Leben gekommen sein könnten, entkräftete er damit, dass er so viele Verwandte und Bekannte in und bei Dresden habe, so dass wir auf jeden Fall einen Unterschlupf fänden. Also gab ich als Entlassungsort Dresden an.

Am Morgen des 23. Febr. stand ein Zug am Bahngleis vor dem Lager, in den alle Zeltbewohner der anderen Lagerseite beordert wurden. Damit war ich von meinem Kameraden getrennt, was mir deswegen Sorge bereitete, weil ich nicht wusste, ob ich in dem zerstörten Dresden mein Ziel finden würde. Aber welche andere Möglichkeit gab es, als am nächsten Morgen in einen weiteren nach Dresden bereitgestellten Zug einzusteigen? Keine! Also ließ ich wieder einmal dem Schicksal seinen Lauf. Und das griff am 25. Febr. zu. Wir standen im Bahnhof von Bebra, einem Städtchen nicht weit von der Grenze zur russischen Besatzungszone entfernt. Offensichtlich stand ein längerer Aufenthalt bevor. Gute Geister versorgten uns mit Verpflegung und Getränken. Überall von den Wänden hingen Zettel mit der Frage, wer kennt meinen Mann ….. Sohn ….. Vater ….. usw., zuletzt als Gefreiter ….. Unteroffizier ….. Feldwebel ….. usw. bei der Einheit x, y, z. Das ganze Elend des verlorenen Krieges schrie uns in diesem Bahnhof entgegen. Während wir so sinnierten, kam ein Vertreter des Roten Kreuzes an unseren Waggon, der davon berichtete, dass zahlreiche von den Amerikanern oder Engländern entlassene Gefangene, die keine Verwandten ersten Grades in der Sowjetzone hatten, in russische Gefangenenlager gebracht worden seien. Er rate deshalb allen, auf die diese Voraussetzungen zuträfen, den Zug zu verlassen. In Hessen gebe es Arbeit und Unterkunft zur Genüge, da noch viele Männer in Gefangenschaft seien. Wenn wir uns entschlössen dazubleiben, sollten wir uns beim Arbeitsamt melden, das die weitere Vermittlung übernehmen würde. Während die Betroffenen noch etwas ratlos schauten, ging er zum nächsten Waggon weiter.

Neubeginn

Allmählich versammelten sich einige mit ihrem spärlichen Gepäck am Bahnsteig, denen ich mich dann auch anschloss. Keiner wollte das Risiko eingehen, die gerade erst beginnende Freiheit gegen das Joch einer vielleicht noch schlimmeren Gefangenschaft bei den Russen einzutauschen. So kam ein ganz ansehnliches Häufchen von Menschen zusammen, das sich zum Arbeitsamt begab.

Dort wurde nach Handwerkern aller Art gesucht. Maurer, Zimmerer, Schreiner, Maler, Mechaniker gingen weg wie warme Semmeln. Am Schluss standen drei entlassenen Gefangene recht elend und mutlos da, für die man keine Verwendung hatte. Es waren dies ein Angestellter, ein Student und ein Schüler. Letzterer war ich. Man bot uns an, uns ans Landesarbeitsamt nach Kassel weiter zu reichen, da man dort umfangreichere Möglichkeiten habe. Während wir drei noch drüber nachdachten und berieten, kam ein älterer Herr auf uns zu, der sich nach unserer Herkunft und unserem weiteren Weg sehr freundlich erkundigte. Uns als wir ihm von unserer Bedrängnis erzählt hatten, fragte er, ob nicht einer von uns mit ihm gehen wolle. Er habe in der Nähe von Bebra eine kleine Landwirtschaft und dazu eine Gastwirtschaft. Sein einziger Sohn sei in russischer Gefangenschaft und er allein könne die Landarbeit nicht mehr schaffen. In den letzten Monaten habe er einen jungen Mann, auch einen entlassenen Gefangenen gehabt, der ihm tatkräftig geholfen habe. Der habe aber nun im Raum Berlin seine lange gesuchten Eltern wiedergefunden, zu denen er verständlicherweise zurückgegangen sei. Man bräuchte ja von Landwirtschaft nicht viel verstehen, es sei bei gutem Willen alles erlernbar. Er könne garantieren, dass es dem, der zu ihm käme, gut gehen würde. Es konnte sich keiner entschließen spontan ja zu sagen. Er gab aber nicht auf weiter zu werben. Ich erinnerte mich mehr und mehr an schöne Tage in den landwirtschaftlichen Anwesen meiner Großeltern und meines Klassenkameraden Joachim Steinig in Gräbendorf und nahm schließlich das Angebot an, auch eingedenk dessen, dass ich sonst möglicherweise noch tagelang herum geschoben würde. Ich wollte endlich wieder einmal so etwas wie ein Zuhause haben.

Also wurden die Formalitäten am Arbeitsamt erledigt, was bei mir viel Zeit in Anspruch nahm, weil ich ja eine Aufenthaltsgenehmigung für Hessen brauchte. Mein neuer Arbeitgeber war vorausgefahren, nachdem er beschrieben hatte, wie ich zu ihm gelangen könne.

Nachdem meine Papiere in Ordnung waren, setzte ich mich in den Zug und fuhr nach Baumbach. Von dort ging es zu Fuß nach Oberellenbach Kreis Rotenburg a. d. Fulda, in den Ort, der für viele Monate meine neue Heimat sein sollte. Der Weg führte über einen Höhenrücken, von dem aus ich auf Oberellenbach hinabblickte. Es war ein kühler Wintertag, jener 25.2.46. Schneeflocken bedeckten die Landschaft. Ich trug einen gefärbten Ami-Mantel, auf dem am Rücken groß die Buchstaben PW (= prisoner of war) aufgedruckt waren. Zu meinem weiteren Besitz gehörten eine Decke und ein Brotbeutel, in dem sich ein Handtuch, das Rasierzeug und sonst noch ein paar Kleinigkeiten befanden. Die Beine steckten in schweren Kommiss-Knobelbechern. Irgendwie wurde mir klar, dass dies eine Stunde null für mich war. Die Heimat war verloren, von Vater, Mutter, Schwester, von Verwandten, Bekannten und Freunden keinerlei Nachricht. Es galt im Leben völlig neu zu beginnen.

Mit dieser Absicht betrat ich das Anwesen Grenzebach in Oberellenbach. Im Haus war der „Chef“ Heinrich Grenzebach, seine Frau Martha, deren schon ziemlich alte Mutter und die Schwiegertochter, die etwa 5 bis 10 Jahre älter war als ich. Ich wurde freundlichst aufgenommen und erhielt ein kleines Zimmer im 2. Stock. Endlich hatte ich wieder ein Bett zur Verfügung.

Das Leben begann in der neuen Umgebung – bedingt durch die Verpflegungsumstellung – zunächst mit einer lästigen Darmgrippe. Die Arbeit lief nur langsam an, denn es war ja Winter. Die Stillarbeit gehörte allerdings zu meinen täglichen Geschäften. Ausgenommen davon war das Melken. Alles habe ich in den nachfolgenden Monaten gelernt, nur zum Melken konnte ich mich nicht durchringen. Diese Arbeit blieb der Schwiegertochter überlassen.

Die Grenzebachs verhalfen mir in den kommenden Wochen zu ziviler Kleidung, zum größten Teil aus Beständen ihres Sohnes. Ich fand Anschluss in der Dorfjugend. Es gab sogar einen privat organisierten Tanzkurs im Saal des Gasthauses Grenzebach, den ich anfangs noch in meinen alten Knobelbechern absolviert habe.

Was mir aber in jenen Wochen und Monaten besonders am Herzen lag, war der Versuch, etwas über meine Angehörigen zu erfahren. Die letzten Kontakte lagen mehr als ein Jahr zurück. Als erstes bot sich der Suchdienst des Roten Kreuzes an. Dies war eine zentrale Einrichtung in dem kleiner gewordenen Nachkriegsdeutschland, in dem Millionen von Flüchtlingen und Heimatvertriebenen eine neue Bleibe suchten und in dem Millionen von Heimkehrern nach ihren vertriebenen oder ausgebombten Angehörigen fahndeten. Dieser Suchdienst erwies sich als sehr segensreich, hat er doch viele Menschen in relativ kurzer Zeit wieder zusammengeführt. So erhielt auch ich recht bald die Adresse meines Vaters. Wir nahmen sofort Verbindung miteinander auf und dabei erfuhr ich, dass auch er sich an den Suchdienst gewandt hatte. Dadurch war es leicht, den Suchauftrag schnell zu erledigen. Ich erfuhr ferner, dass mein Vater in Oberbayern in amerikanische Gefangenschaft geraten und im Lager Bad Aibling interniert war. Von dort aus musste er einmal mit einer Gruppe Kameraden Barackenteile aus einem holzverarbeitenden Betrieb in Holzkirchen abholen. Und als wenige Zeit später eine Entlassungsaktion für in der weiteren Umgebung beheimatete gestartet wurde, gab er als Heimatort Holzkirchen an, sonst kannte er ja nichts in dieser Region, und wurde auch prompt dahin entlassen. Er fand in dem holzverarbeitenden Betrieb, dem „Isartaler Holzhaus“ nämlich, Arbeit und bekam auch in einer werkseigenen Baracke eine Unterkunft.

Nun wusste ich also, dass der Vater lebt und einigermaßen versorgt ist. Aber von Mutter und Schwester war nichts zu erfahren, obwohl über verschiedene Kanäle allmählich Kontakte mit Verwandten und Bekannten hergestellt werden konnten. Lange habe ich mein Gehirn gemartert, um einen weiteren Suchansatz zu finden. Da fiel mir eines Tages ein, dass eine Cousine meiner Mutter, die lange in Saarau gelebt hatte, irgendwann Ende der 30-er Jahre zusammen mit ihrem Mann nach Sachsen umgezogen war, da er dort Arbeit gefunden hatte. Mir fiel auch wieder ein, dass diese Liesel Wittig nach ihrer Heirat Becker hieß, dass der Wohnort in Sachsen Niederau war und dass nach früheren Erzählungen die Wohnung am Marktplatz liegen musste. Das war die einzige Verwandte, die außerhalb des Vertreibungsgebietes wohnte. Also schrieb ich auf gut Glück einen Brief an Frau Liesel Becker, Niederau/Sachsen, Marktplatz. Und siehe da, der Brief kam an, da sie noch dort wohnte, und ich bekam sehr bald eine Antwort, und zwar eine erfreuliche. Liesel wusste, dass meine Mutter und Schwester noch am Leben sind und wo sie sich aufhalten. Dieses Wissen kam daher, dass Liesels Mutter und Schwester Gretel sowie meine Mutter und Schwester mit dem gleichen Treck vor der russischen Dampfwalze geflüchtet sind und dass die Wittigs zum ehestmöglichen Zeitpunkt mit ihrer Tochter und Schwester Liesel Verbindung aufzunehmen versucht hatten, und zwar mit Erfolg. Ich war überglücklich und schrieb sofort an die Meinen. Aus den Antworten erfuhr ich dann von ihrem Schicksal. Sie waren mit dem Treck bis nach Holleischen im Raum Eger, also nahe der bayrischen Grenze gekommen. Diesen Teil des Sudetenlandes hatten gegen Kriegsende die Amerikaner besetzt, so dass man sich dort sicher fühlte. Doch mit der Kapitulation am 8. Mai 1945 zogen sich die Amerikaner hinter die alte Reichsgrenze von 1937 zurück und überließen das Sudetenland den Russen bzw. den Tschechen. Letztere benutzten die Deutschen als billige Arbeitskräfte und verschleppten Mutter und Schwester sowie die Wittigs in die Mitte der Tschechei nach Stancowice, wo sie bei einem Bauern Frondienste verrichten mussten. An diesem Ort also erreichte sie Mitte 1946 mein erster Brief. Nun war es also wieder möglich, mit Vater, Mutter und Schwester wenigstens Briefkontakte zu pflegen. Die Anschrift von Mutter und Schwester änderte sich allerdings recht bald, das sie noch 1946 aus der Tschechoslowakei ausgewiesen wurden und in Staßfurt bei Magdeburg einen Unterschlupf fanden.

Mein Leben in Oberellenbach war dem von der Landwirtschaft vorgegebenen Jahresablauf unterworfen. Säen und ernten, mähen und dreschen, pflügen und eggen und vieles andere mehr gehörten zu meinen Aufgaben. Alles habe ich gelernt und war ein wenig stolz darauf, auch darauf, so bei Kräften zu sein, dass ich beim Dreschen Säcke mit einem Zentner und mehr mühelos auf den Speicher tragen konnte.

Freizeit ist damals wenig geblieben. Sie etwa abwechslungsreich zu nutzen, dazu gab es damals kaum Möglichkeiten. Das nächste Kino war in einem mindestens 6 km entfernten Ort. Aber wie dahin kommen? Es gab weder Autos noch Motorräder, ja nicht einmal Fahrräder. Also gab es auch keinen Kinobesuch. Ein Schwimmbad war auch nicht vorhanden, wenigstens aber in der Nähe von Oberellenbach ein aufgelassener Steinbruch, der sich mit Wasser gefüllt hatte. Baden konnte man dort nur, wenn man des Schwimmens mächtig war, denn die Ufer fielen überall steil ab. Schwimmen aber, und das war für mich eine interessante Feststellung, konnte von der Dorfjugend niemand. Außer mir beherrschte noch jemand von den im Dorf Wohnenden das Schwimmen, nämlich ein Mädchen aus Kassel, das mit ihren Eltern als Ausgebombte in Oberellenbach lebte. Wir beide haben mit mehr oder weniger großem Erfolg versucht, Gleichaltrigen das Schwimmen beizubringen.

In den Wintermonaten gab es im Ort die sog. Spinnstuben. Das waren Zusammenschlüsse von Mädchen, die sich einmal in der Woche abends jeweils in einem anderen Haus zu Handarbeiten zusammenfanden. Am späteren Abend stießen dann die Burschen dazu und der Abend klang beim gemeinsamen Spiel oder Unterhaltung aus. Am Wochenende wurde in der Wirtschaft Karten gespielt. Das dort übliche Spiel war Doppelkopf.

Im Sommer 1946 war mein Vater für etliche Tage nach Oberellenbach gekommen. Es gab ein freudiges Wiedersehen nach 2 Jahren der Trennung. Da gerade Erntezeit war, konnte es mein Vater nicht lassen bei der Arbeit zu helfen. Sie war für ihn ja nicht neu, da er aus einer kleinen Landwirtschaft stammte.

Und schon bald ging das Jahr 1946 dem Ende entgegen, die Arbeit wurde weniger, es gab immer einmal wieder Zeit für Gespräche. Mein Chef Grenzebach, ein ehemaliger Lehrer, gab mir zunehmend zu bedenken, dass ich wohl nicht ewig in der Landwirtschaft bleiben und irgendwie einen Abschluss meiner Schulausbildung anstreben sollte. Doch wie sollte das geschehen? Die paar Pfennige Lohn, die ich bekam, reichten nicht für große Ersparnisse. Und die Eltern waren froh, ihren Lebensunterhalt mehr schlecht als recht bestreiten zu können.

Aber wie so oft im Leben kommt einem dann unerwartete Hilfe. Die wiederum sah bei mir so aus: Im Januar 1947 habe ich meinen Vater in Holzkirchen besucht. Die Rückfahrt nach Oberellenbach habe ich auf dem Umweg über Cham in der Oberpfalz angetreten. Übrigens waren damals die Züge in aller Regel total überfüllt. Es war keine Seltenheit, dass die Leute auf den Puffern zwischen 2 Waggons standen, ja teilweise sogar auf den Dächern saßen oder lagen.

In Cham hatte Tante Agnes, eine Schwester meiner Mutter, zusammen mit Mann und den Töchtern Edith und Margot nach der Vertreibung aus Breslau eine neue Heimat gefunden. In Cham hatte sich auch ein aus Schlesien vertriebener Priester namens Steinig niedergelassen, den Edith von der Arbeit für die Heimatvertriebenen kannte. Dieser Pfarrer Steinig war ein Onkel meines Breslauer Klassenkameraden Joachim, bei dem ich einige Male im elterlichen Bauernhof Ferien verbracht hatte. Und dieser Pfarrer Steinig wusste, dass sein Neffe in Königstein/Taunus gerade dabei war, sein Abitur nachzuholen. In diesem Ort hatten Flüchtlingsorganisationen unter Beteiligung des aus dem Ermland vertriebenen Bischofs Kaller ein Gymnasium und ein Priesterseminar für Heimatvertriebene in einer ehemaligen Arbeitsdienstführerschule eingerichtet.

Ich nahm sofort Verbindung mit Joachim Steinig auf, erfuhr von ihm einiges über den Betrieb in Königstein und bekam auch Informationsmaterial von der Schule. Nach Sichtung der Unterlagen und vor allem aufgrund der Aussage der Schule, dass für Bedürftige Kostenermäßigung bzw. Kostenfreiheit gewährt wird, bewarb ich mich um Aufnahme. Meinem Antrag wurde entsprochen; die Zeit als „Ochsenchaffeur“ ging somit dem Ende entgegen.

Am 21. April 1947 verließ ich Oberellenbach, um in Königstein wieder einmal einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen. Dem Gymnasium war ein Internat angeschlossen, in dem alle Schüler und Studenten untergebracht waren. Als die Aufnahmeformalitäten erledigt waren, wurde ich in eine „Bude“ eingewiesen, die wie eine Kasernenstube eingerichtet war:

mehrere doppelstöckige Betten, für jeden ein Spind und ein großer Tisch mit Stühlen. Beim Betreten des Raumes bemerkte ich, dass schon einige „Leidensgenossen“ Quartier bezogen hatten. Einer von ihnen, Horst-Achim (Jonny) Krause, sah mich kurz an, stand auf und begrüßte mich freundschaftlichst mit den Worten: „Mensch, Pit, was tust denn Du hier?“ Es bedurfte einiger Aufklärung, bis sich herausgestellt hatte, dass der gute Jonny mich mit einem mir wohl ähnlich sehenden Kriegskameraden Peter (Pit) verwechselt hatte. Sei jenen Tagen begleitet mich von Ort zu Ort und von Jahr zu Jahr der Spitz- oder Rufname Pit.

Alsbald begann in Königstein der Schulalltag. Das Gymnasium befand sich noch in der Anfangsphase des Aufbaues. Ein Abiturkurs lief gerade aus; ich war in der vorletzten Klasse des humanistischen Teils des Gymnasiums. Nach drei Jahren Pause war die Schulbank enorm hart. Aber dieses Empfinden hatten fast alle, waren wir doch weit überwiegend Kriegsteilnehmer und Heimkehrer aus der Gefangenschaft. Nur ganz wenige hatten altersbedingt keinen Kriegsdienst mehr leisten müssen und waren nach der Vertreibung noch irgendwo auf irgendwelchen Schulen. Jedenfalls waren alle Schüler Heimatvertriebene.

Mir persönlich hatte am Anfang das Fach Griechisch die meisten Schwierigkeiten bereitet. Als Lektüre zum Eingewöhnen wurde uns von unserem geschätzten Lehrer Dr. Siecherl Xenophons Anabasis vorgelegt. Schon das Lesen fiel mir schwer. Alles war so fremd geworden, dass ich den Text fast um 180 Grad verkehrt zur Hand genommen hätte. Dazu waren Vokabeln und Grammatik ganz weit weg. Der Anfang war so schwer, dass mir Dr. Siecherl einmal zu überlegen gab, es eine Klasse tiefer zu versuchen. Nun, ich habe mich wieder gefangen, zumal ich in anderen Fächern keine derartigen Probleme hatte. Mit dem Eingewöhnen in den Schulbetrieb lief das Aneinandergewöhnen der neuen Gemeinschaft parallel. Letzteres war nicht problembeladen, war doch keiner von uns vom Leben verwöhnt. Was mich eher belastete war der Hunger. Nach Zeiten ausreichender Verpflegung in der Landwirtschaft bedurfte es erheblicher Umstellung, um mit dem, was die Lebensmittelmarken hergaben – damals unterlagen die Lebensmittel noch der Bewirtschaftung -, zurechtzukommen. Die Schwestern in der Küche gaben sich zwar die größte Mühe, aber Quantität ließ sich halt nicht herbeizaubern. Um so erfreulicher war es, wenn mein Stubenkamerad Franz Marschner gelegentlich ein Care-Paket von Verwandten aus Amerika bekam. Das enthielt Dinge, an die in dem ausgemergelten Nachkriegs-Deutschland gar nicht zu denken war. Und all diese Dinge hat der gute Franzl nicht für sich alleine behalten. Es war fast wie Weihnachten. Wenn dann noch eine amerikanische Zigarette – sie wurden damals für 5 Mark pro Stück gehandelt – die Runde machte, dann war sie bald heißgeraucht, weil jeder so gierig daran zog.

Die Pfingstferien 1947 habe ich in Oberellenbach verbracht. Natürlich bekam ich ein „Fresspaket“ mit, dass dann auf unserer Bude redlich geteilt wurde.

Von Königstein aus haben wir den Taunus erwandert, hatten aber auch Gelegenheit zu der einen oder anderen organisierten Fahrt. So konnten wir z. B. den Diözesanjugendtag in Limburg oder einen Flüchtlingsgottesdienst in Frankfurt besuchen. Die kleine Welt begann sich wieder ein wenig zu öffnen.

Und dann kamen die Sommerferien 1947. Es war klar, dass mich der erste Ferientag nach Holzkirchen führen würde, waren doch seit kurzem Mutter und Schwester dort. Nach langen Mühen hatte mein Vater die damals noch erforderliche Zuzugsgenehmigung erhalten. Ich war gespannt auf das Wiedersehen, denn die letzte Begegnung mit ihnen lag 2 ½ Jahre zurück. Nach langer und anstrengender Nachtfahrt kam ich am Morgen des 1 Aug. 1947 in Holzkirchen an. Ich erfuhr, dass Mutter und Schwester in der Frühmesse der Kapelle des Krankenhauses waren. Mich hielt nichts davon ab, sofort auch dahin zu gehen. Überglücklich war ich, sie dann in der Kapelle sitzen zu sehen. Mir fiel auf, dass die beiden mich beim Betreten der Kapelle sehr genau gemustert haben. Den Grund dafür erfuhr ich sehr bald, sie wollten sich nämlich vergewissern, dass ich auch wirklich keine sichtbare Behinderung aus dem Krieg mitgebracht habe. Auf der Karte, die ich aus amerikanischer Gefangenschaft schreiben durfte, hatte ich ja das Feld: „War leicht verwundet“ angekreuzt.

Dass diese Karte in die Hand meiner Mutter gelangt ist, hat eine sehr wundersame Bewandtnis. Ich hatte ja die Karte, wie schon erwähnt, an meine Heimatadresse in Saarau gerichtet. Die Post funktionierte im August 1945 offensichtlich schon so gut, dass eine Sendung von Cherbourg/Frankreich nach Saarau/Schlesien (unter polnischer Verwaltung stehend) gelangen konnte. Nur war eine Frau Anna Pöpelt nicht mehr in Saarau. Dafür tat aber mein Onkel Alois, ein Bruder meines Vaters, wieder Dienst im Postamt Saarau. Er wohnte in Eckersdorf, einem Nachbarort von Saarau, hatte in einen landwirtschaftlichen Nebenerwerbsbetrieb hineingeheiratet und war hauptamtlich Postbediensteter in Saarau. Er und seine Frau waren nicht geflüchtet, hatten dafür aber furchtbar unter den russischen Fronttruppen leiden müssen. Als nach Kriegsende das Gemeinwesen langsam wieder aufgebaut wurde, hat man ihn als Kundigen im Postdienst benötigt. Und just an dem Tag und zu der Stunde als meine Karte kam, hatte er Dienst. Dass er die Karte gleich an sich nahm, ist klar. Er konnte sie aber auch weiterleiten. Meine Mutter hatte sich nämlich beim Pfarrer von Saarau, der nach den Wirren der Front wieder in seine Gemeinde zurück-gekehrt war, schriftlich aus ihrem tschechischen Zwangsaufenthalt gemeldet. Da mein Onkel selbstverständlich auch Kontakt mit dem Pfarrer hatte, war ihm auch der Aufenthaltsort meiner Mutter bekannt und so konnte die Karte auf Umwegen den Adressaten erreichen.

Die ersten „Großen Ferien“ meiner Nachkriegs-Schulzeit habe ich im Kreis der Familie in Holzkirchen voll genossen. Es ging zwar sehr eng zu in der Mini-Behelfswohnung in der Baracke des Isartaler Holzhauses, aber wir alle waren schlimmeres gewohnt. Die Freude über das Beisammensein überwog alle negativen äußeren Begleitumstände. Meine Schwester hatte eine Beschäftigung im Krankenhaus von Holzkirchen gefunden und meine Mutter begann durch Näharbeiten auf einer günstig erworbenen alten Nähmaschine ein Zubrot zu verdienen.

Ich selbst habe die Schulferien zu einem 14-tägigen Ernteeinsatz in Oberellenbach unterbrochen. Der Sohn von Heinrich Grenzebach, meinem ersten Brötchengeber nach der Gefangenschaft, war noch immer von den Russen festgehalten, so dass meine Hilfe recht willkommen war. Mir selbst kam dieser Einsatz nicht ungelegen, hat er doch finanziell und materiell in Form von nach wie vor raren Lebensmitteln ein wenig weitergeholfen.

Mit Beginn des Monats September ging die Schulausbildung in Königstein weiter. Ich war in die letzte Gymnasialklasse vorgerückt, da ich meine Anfangsschwierigkeiten in Griechisch überwunden und auch sonst keine ins Gewicht fallenden Schwierigkeiten hatte. Meine Stärke waren die naturwissenschaftlichen Fächer und darunter besonders die Mathematik. Andere waren musisch oder sprachlich besser begabt, und das enge freundschaftliche Verhältnis, das fast alle zueinander fanden, führte zu einer regen gegenseitigen Hilfe.

So nahm die Schulbildung ihren planmäßigen Verlauf. Die Ferien verbrachte ich jeweils in Holzkirchen, wo es gelang zunehmend Kontakte zu knüpfen. Das war für die „Preußen“ in Bayern nicht immer ganz leicht, es war aber keineswegs unmöglich. Jeweils durch den Erholungseffekt der Ferien gestärkt ging es allmählich auf das Abitur zu. Und damit stellte sich immer intensiver die Frage nach dem Berufsziel. Die Entscheidung war nicht leicht. Nach längerem Prüfen und Wägen hatte ich mich entschieden, Bauingenieur werden zu wollen. Meine naturwissenschaftlichen Neigungen und die Erkenntnis, dass in dem geschundenen Nachkriegsdeutschland immense Aufbauarbeit anstand, waren Ausschlag gebend dafür. Nun galt es, die einschlägigen Hochschulen ausfindig zu machen und die erforderlichen Bewerbungen vorzubereiten.

Je näher die Zeit des Abiturs herankam, umso intensiver wurde gebüffelt, wollte doch jeder mit einem möglichst guten Ergebnis abschließen. Den allermeisten gelang dies auch. Zwei Klassen hatten sich den Prüfungen zu stellen, eine aus dem realgymnasialen und eine aus dem humanistischen Zweig. Wir „Humanisten“ waren 13 an der Zahl, die sich den Prüfungen stellten, und 4 davon bestanden das Abitur „mit Auszeichnung“, darunter auch ich. Wir waren mächtig stolz darauf, zumal in der zahlenmäßig stärkeren Parallelklasse kein einziger diese Note erreicht hatte.

Am 21. September 1948 erhielten wir das Reifezeugnis. Abschriften davon habe ich sofort den vorläufigen Bewerbungen bei verschiedenen Hochschulen nachgeschoben. Leider kamen aus Aachen, Braunschweig, Hannover und München abschlägige Antworten, zum Teil mit der Begründung, dass wegen der fortgeschrittenen Zeit die Bewerbung für das Wintersemester 1948/49 nicht mehr berücksichtigt werden könne, zum Teil auch deswegen, weil an einigen Hochschulen vor Studienbeginn eine Teilnahme an einer Aufbauarbeit der kriegsbeschädigten Gebäude und Einrichtungen nachgewiesen werden musste. Letzteres galt auch für die Technische Hochschule (TH) München.

Die Absagen waren auf der einen Seite außerordentlich bedauerlich, doch auf der anderen Seite war es wohl im Nachhinein betrachtet letztlich gut so, denn das Wintersemester wäre kaum finanzierbar gewesen. Die Währungsreform, bei der jeder mit 40 DM neu beginnen musste, lag erst einige Wochen zurück, und von meinen Eltern war keine finanzielle Unterstützung zu erwarten. Mein Vater war schwer an Gelbsucht erkrankt und lag viele Wochen im Krankenhaus. Ich musste also wieder einmal selbst mein Schicksal in die Hand nehmen und versuchen, das Beste aus der Situation zu machen. Aber wie?

Inzwischen hatte ich Königstein verlassen und war bei meinen Eltern in Holzkirchen. Da am Bau noch am ehesten Arbeit zu finden war und für ein Bauingenieurstudium ein Praktikum verlangt wurde, lag es nahe, bei einer Baufirma Beschäftigung zu suchen. Und so suchte ich die Bauunternehmung Florian Kirchberger in Holzkirchen auf.

Meine – wohl nicht ganz geschickte – Frage an den Bauunternehmer, ob er einen Praktikanten einstellen würde, stieß auf eisige Ablehnung. Wer suchte auch damals schon einen Praktikanten? Ganz kleinlaut fasste ich dann nach und fragte, ob er mich wenigstens als Hilfsarbeiter beschäftigen könnte. Auch dafür zeigte er keine sonderliche Neigung, da ich ja gleichwertige Tätigkeiten nicht vorzuweisen hatte. Erst mein Hinweis darauf, dass ich mehr als ein Jahr in der Landwirtschaft gearbeitet hatte, machte ihn geneigter. Er war bereit, es mit mir zu versuchen, aber nur mit etwa dem halben Hilfsarbeiter-Lohn. Doch war

er fair genug mir zuzusichern, dass er nach rund 4 Wochen mir den vollen Hilfsarbeiter-Lohn zahlen wolle, wenn ich die gleiche Leistung erbrächte wie seine Hilfsarbeiter. Auf dieser Basis wurden wir uns einig und am 3. Oktober 1948 begann ich als Bauhilfsarbeiter bei der Bauunternehmung Florian Kirchberger in Holzkirchen. Die Löhne wurden damals wöchentlich auf der Baustelle ausbezahlt. Als ich die dritte Lohntüte öffnete, war ich nicht wenig erstaunt, darin den vollen Hilfsarbeiter-Lohn vorzufinden. Ich war mächtig stolz auf mich, da es mir ganz offensichtlich schon innerhalb von 2 Wochen gelungen war zu beweisen, dass ich körperliche Arbeit nicht verlernt und mich wohl auch nicht ungeschickt angestellt hatte.

Beschäftigung gab es damals genug, Winterpause musste keine eingelegt werden. Ich lernte den Umgang mit Bauleuten kennen und auch den rauen Ton, der häufig auf Baustellen herrscht. Ich konnte auch viel praktische Erfahrung sammeln. Das alles sollte mir später zugute kommen.

Schließlich machte ich auch erstmals die Erfahrung, dass theoretisches Schulwissen durchaus Anwendung in der Praxis findet. Ich wäre früher nie auf den Gedanken gekommen, dem mathematischen Lehrsatz des Pythagoras auf der Baustelle zu begegnen. Und das geschah so: Eines Tages musste ich in Föching aufkreuzen, wo es galt, eine Baustelle für ein Wohnhaus vorzubereiten. Dazu gehörte auch das Abstecken des Grundrisses. Und da ein Haus in der Regel rechtwinklig erstellt wird, mussten 4 rechte Winkel im Gelände abgesteckt werden. Ich staunte nicht schlecht, dass dazu kein Vermessungsgerät erforderlich war, sondern nur eine lange Schnur, die im Abstand von je 3, 4 und 5 Metern eine Markierung aufwies. Diese Schnur wurde auf einem Lehrgerüst dann so gespannt, wie es die Skizze zeigt:

Skizze

Skizze

Da war mir klar, dass dies nichts anderes ist als der gute alte Pythagoras, der sagt, dass die Summe der Quadrate über den Katheten eine rechtwinkligen Dreiecks gleich dem Quadrat über der Hypotenuse ist. Mathematisch sieht das so aus:

3² + 4² = 5²

oder 9 + 16 = 25.

Eine andere Erfahrung aus jener Zeit ist heute nach mehr als 40 Jahren nicht mehr nachvollziehbar, nämlich die, dass die Arbeitskraft billig und das Material teuer und rar war. So durfte z. B. kein Nagel in Schutt oder Abfall landen und jeder krumme Nagel musste zur Wiederverwendung gerade geklopft werden.

In jenen Monaten in Holzkirchen versuchte ich Kontakte zu knüpfen, denn schon die Bibel sagt ja, dass es für den Menschen nicht gut ist allein zu sein. Damals war Matthias Mayer Kaplan in Holzkirchen, ein begnadeter Musiker und ein ungeheuer rühriger Jugendseelsorger. Er leitete nicht nur den Kirchen- und Jugendchor sondern kümmerte sich auch intensiv um die Bildung und den Zusammenhalt von Jugendgruppen. Sein Schwerpunkt lag zwar bei der Pfadfinderei, aber auch die übrigen kamen nicht zu kurz. Ich fand dort Anschluss und wurde akzeptiert. Das tat wohl! Ich erinnere mich an viele schöne Stunden, besonders aber an einen Abend im Pfarrhaus im Zimmer des Kaplans, bei dem er uns Mozart näher bringen wollte. Mitten im Raum, der nur von Kerzenlicht erhellt war, stand ein Flügel, an dem Kaplan Mayer saß. Die jugendlichen Teilnehmer umringen im Halbkreis das Musikinstrument. Mayer versuchte uns die Musik von Mozart verständlich zu machen und leitete dann zu Figaros Hochzeit über. Ich durfte den Inhalt kurz vortragen, immer wieder unterbrochen von Mayers Klavierspiel oder von gesungenen Arien oder Duetten. Die jungen Sängerinnen waren damals u. a. das Bichler Marerl und meine zukünftige Frau. In jener Zeit des Mangels an kulturellen Angeboten war dieser Abend eine wohltuende Bereicherung.

Da meine Tätigkeit auf der Baustelle nur ein Intermezzo bleiben sollte, musste ich weiter am Ball bleiben, um zu einem Studienplatz zu kommen. Und wieder einmal kam mir der Zufall zu Hilfe. Ich hatte erfahren, dass mein Vetter Konrad Pöpelt, ein Sohn jenes Onkel Alois, der meine Karte aus der Gefangenschaft in die Hand bekam, in Tübingen studierte. Er, Geburtsjahrgang 1925, war sehr bald aus Gefangenschaft entlassen worden und hatte es – wie, weiß ich nicht – geschafft, schon 1946 mit der Notabiturbescheinigung das Studium aufzunehmen. Gut zwei Jahre später war er bereits Hilfsassistent am Lehrstuhl für Anthropologie. Als solcher verfügte er auch schon über gewisse Beziehungen. Die Kontakte mit ihm ergaben, dass er seine Beziehungen nutzen wolle, um mir zu einem Studienplatz zu verhelfen. Ich nahm das Angebot an, denn wenn man erst einmal an einer Hochschule immatrikuliert war, konnte man jederzeit an jede andere deutsche Hochschule wechseln, ohne dort noch irgendwelche Aufnahmebedingungen erfüllen zu müssen. Und es klappte auch mit einem Studienplatz an der Alma Mater in Tübingen für das Sommersemester 1949.

Am 22. April 1949 beendete ich meine Tätigkeit bei der Baufirma Kirchberger in Holzkirchen und wurde dafür mit einem durchaus respektablen Zeugnis bedacht. Anfang Mai trat ich dann die Reise nach Tübingen an. Diese Stadt gehörte zur französischen Besatzungszone, in der es damals noch eigene Briefmarken gab. Wohnen konnte ich bei meinem Vetter. Seine Studentenbude lag mitten in der Altstadt nahe dem Neckar in einer engen Gasse, in der man sich gegenseitig in die Zimmer sehen konnte. Belegt hatte ich die Fächer Mathematik, Physik und Chemie, die mir für das angestrebte Bauingenieurstudium noch am ehesten von Nutzen sein konnten. Allerdings hatte ich da mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen, weil die Vorlesungen des Sommersemesters auf Vorlesungen aus dem vorausgegangenen Wintersemester aufbauten, die mir ja fehlten. Aber Tübingen sollte ja nur die Starthilfe für einen Beginn an einer Technischen Hochschule sein, so dass die Probleme hinnehmbar waren.

Auch hier suchte ich Anschluss zur Gestaltung der Freizeit und fand ihn in der Kath. Studentengemeinde. Heiße Diskussionsabende sind mir in Erinnerung, aber als Kontrast dazu auch romantisch angehauchte Veranstaltungen wie eine Nachtwanderung zur Würmlinger Kapelle oder eine Nachtfahrt mit Lampion geschmückten Booten auf dem Neckar. Einen Hauch von Romantik begegnete ich in Tübingen auch, als die Studenten dem berühmten Chemiker Prof. Adolf Butenandt mit einem imponierenden Fackelzug dafür dankten, dass er damals einen Ruf an eine andere Hochschule abgelehnt hatte.

Als Student sollte man auch, so es die Zeit erlaubt, über den eigenen Fachbereich hinausschauen. Mich reizte damals die Theologie, denn in Tübingen lehrten zwei berühmte Theologen, nämlich die Professoren Karl Adam und Romano Guardini. Ihnen zuzuhören brachte reichen Gewinn. Guardini war damals auch Studentenseelsorger und einer der ersten, der adverses populo zelebrierte, für uns seinerzeit faszinierend, für die Heutigen selbstverständlich.

Als Student musste man sich damals – jedenfalls in Tübingen – auch einem Gesundheitstest unterziehen, zu dem u. a. eine Durchleuchtung der Lunge gehörte. Dabei stellte sich bei mir zu meinem nicht geringen Schrecken eine inaktive (verkapselte) Lungen-Tbc heraus. Das staatliche Gesundheitsamt hatte bei diesem Befund vorsorglich eine regelmäßige Überwachung angeordnet. Als ich gegen Ende des Semesters der Fürsorge-Ärztin erzählte, dass ich beabsichtige, in den Ferien wieder am Bau zu arbeiten, um mir Geld für das Wintersemester zu verdienen, hat sie mir dringendst davon abgeraten und eine Kur empfohlen, für die sie sich sofort einsetzen wolle.

Das hat sie auch getan, und zwar mit Erfolg. Kaum war mit Ablauf des Monats Juli das Semester zu Ende, erhielt ich eine Einberufung in die Lungenheilstätte Gundelsheim am Neckar für acht Wochen in den Monaten August und September 1949. Lange Liegezeiten und gute Verpflegung waren die Hauptbestandteile der Kur. Ich bin in Gundelsheim vielen jungen Leuten begegnet, die – bedingt durch die harten Kriegs- und Nachkriegsjahre – das gleiche Los wie mich ereilt hatte. Das tröstete ein wenig über den unverhofften Schicksals-schlag hinweg, zumal die gründlichen ärztlichen Untersuchungen ergaben, dass eine Verschlechterung meines Gesundheitszustandes nicht zu erwarten war und dass einer Fortsetzung meines Studiums nichts im Wege stünde. So konnte ich ein wenig erleichtert und beruhigt nach Holzkirchen zurückkehren.

Im November nahm ich dann das Bauingenieurstudium an der Technischen Hochschule in München auf. Ich konnte, wenn auch unter beengten Verhältnissen, bei meinen Eltern in Holzkirchen wohnen und bin täglich mit dem Zug nach München gefahren. Der Studienbetrieb dort war wegen der Kriegsschäden in den Hochschulanlagen viel härter als in dem unzerstörten Tübingen. Die Grundvorlesungen in Mathematik, Physik und Mechanik waren z. B. gemeinsam für Bauingenieure, Maschinenbauer und Elektroingenieure im sog. Großen Hörsaal, der gar nicht so groß war. Jedenfalls reichten die Plätze bei weitem nicht für alle Hörer aus. Deshalb wurden für je 3 Studenten 2 Platzkarten ausgegeben in der Hoffnung, dass man sich schon irgendwie einigen werde. Es herrschte eine beängstigende Enge, aber da alle anspruchslos und einsichtsvoll waren, konnte auch diese ungute Situation gemeistert werden. Erste Aufbauarbeiten waren bereits im Gange, die zur der Hoffnung berechtigten, dass es nur besser werden könne.

Ich begegnete bald zu Beginn des Semesters einem Bekannten, der ein Jahr nach mir in Königstein das Abitur gemacht hatte und ohne „Zwischenspiel“ das Studium in München aufnehmen konnte. Es war Willi Jaschik, ein Oberschlesier, dessen Eltern die Heimat nicht verlassen hatten mit der Folge, dass Willi völlig auf sich alleine gestellte seinen Weg gehen musste. Wir haben uns sehr bald zusammen getan, um gemeinsam zu lernen, Skripten auszutauschen oder „Hausaufgaben“ zu erledigen. Und wir haben noch weitere Verbindungen geknüpft, um effektiver arbeiten zu können, Verbindungen aus denen Freundschaften erwuchsen, die zum großen Teil heute noch bestehen. Es kam wohl nicht von ungefähr, dass all diese Kontakte mit denen zustande kamen, die gleiches Schicksal erfahren hatten, nämlich Kriegsdienst, Gefangenschaft und Verlust der Heimat. Unserem Freundeskreis gehörten neben Willi und mir noch an: Heinz Haendel, Rudolf Frimmel, Norbert Poppe und Günter Kosian.

Studieren kostete Geld und das musste irgendwie verdient werden. Zeit dafür boten am ehesten die Semesterferien. Es galt also, rechtzeitig genug vor den Ferien eine Beschäftigung zu finden. Wählerisch durfte man nicht sein, vielmehr zufrieden wenn überhaupt ein Job aufzutreiben war. Das ist auch meistens gelungen. Meinen ersten nicht nur kurzfristigen Job hatte ich zusammen mit Willi Jaschik als technischer Zeichner bei der Photogrammmetrie GmbH in München während der Monate März und April 1950. Unsere Aufgabe bestand im wesentlichen darin, aus Messtischblättern mit Höhenschichtlinien Höhenprofile zu entwickeln, mit deren Hilfe festgestellt werden sollte, welche Gebiete von ausgewählten Gipfeln in Bayern direkt angestrahlt werden. Diese Ausarbeitungen waren Entscheidungshilfen für die Auswahl von Standorten für Sender. Ein auch deswegen nicht uninteressanter Job, weil ich dabei gründlich das Lesen von Karten gelernt habe.

Im Oktober 1950 war ich dann bei der Raiffeisenzentralbank in München tätig. Meine Aufgabe war, Fehler in der Jahresabrechnung 1949 aufzufinden. Meistens handelte es sich um Unstimmigkeiten mit Pfennigbeträgen. Tage- und wochenlang mussten Konten und Saldierungen überprüft und nachgerechnet werden, alles im Kopf, den Computer gab es damals noch längst nicht. Eine sture Tätigkeit, die immer wieder einmal den Wunsch aufkommen ließ, die paar fehlenden Pfennige zu ersetzen, obwohl man selbst jeden Pfennig umdrehen musste bevor man ihn ausgab.

Im März 1951 war dann körperliche Arbeit gefordert, und zwar in einer Großgärtnerei in Pasing. Nicht anders war es im Sept. und Okt. des gleichen Jahres. In diesen beiden Monaten war ich als Werkstudent bei der Firma „Isartaler Holzhaus“ in Holzkirchen. Gegen Ende dieser Beschäftigung ergab sich eine ganz interessante Abwechslung. Eines Tages kam der Betriebsleiter zu mir und sagte: „Du warst doch bei der Baufirma Kirchberger und verstehst was vom Betonieren. Unser Firmenchef möchte seine Hütte in der Sutten bei Enterrottach erweitern und dabei einen kleinen Keller zum Kühlhalten der Getränke anlegen. Der Keller muss betoniert werden. Du gehst also zusammen mit einem Zimmerer auf die Sutten.“ Warum auch nicht dachte ich mir und habe dem Ansinnen nicht widersprochen. Zwei Wochen lang haben wir von Montag bis Samstag Mittag geschaufelt, betoniert und gezimmert. Wohnen konnte wir in einer benachbarten Hütte eines Freundes des Betriebsleiters. In diese Tage fiel die Zeit der Hirschbrunft. Nachts kamen immer wieder röhrende Hirsche in die Nähe der Hütte, vom Fenster aus in ihrer ganzen Größe zu sehen, ein Ereignis, das man so schnell nicht vergisst.

In der Folgezeit habe ich dann mehr und mehr kurzfristige Jobs angenommen, denn das Studium erforderte auch seinen Tribut an Zeit. Etwas längerfristig war ich nur noch in einer größeren Spenglerei in München-Sendling tätig. Und was fiel an kurzfristigen Beschäftigungen an? Das waren z. B.

  • das Ausladen von Koks aus Eisenbahnwaggons in einer Münchner Teigwarenfabrik,
  • das Plakatieren von Zigarettenwerbung auf dem Rosenheimer Volksfest,
  • der Verkauf von Programmen beim Münchner Trachtenzug,
  • das Ablesen von Schießscheiben beim Preisschießen in München,
  • das Reinigen und Einrichten eines Neubaus von C & A in München in der Fußgängerzone und abschließend für 14 Tage das Einweisen von Kunden nach der Geschäftseröffnung.

Der aus meiner Sicht ausgefallenste Job war folgender:

Eines Tages saß ich mit Willi Jaschik im Wartezimmer des Studenten-Schnelldienstes, einer Arbeitsvermittlung für Studiosi. Nach kurzer Zeit kam die Frage: „Sind zwei Herren da, die über einen dunklen Anzug verfügen?“ Willi zu mir: „Hast Du einen?“ Ich: „Ja!“ Willi: „Melden wir uns!“ Gesagt, getan! Wir wurden daraufhin in unsere Aufgabe eingewiesen, die darin bestand, am nächsten Tag als Trauzeugen im Standesamt Nymphenburg für zwei Ausländer zu fungieren, die keinerlei Verwandte oder Bekannte in München hatten. Jeder von uns bekam damals 5,- DM und Fahrtkostenersatz.

Neben all diesen geldbringenden Betätigungen durfte das Studieren nicht zu kurz kommen. Und es kam nicht zu kurz. Am 18.3.1952 erhielt ich das Vordiplom-Zeugnis für Bauingenieure. Im Herbst 1953 habe ich die Diplomhauptprüfung nach der Mindeststudienzeit von 8 Semestern mit „gut“ bestanden und am 6.11.1953 das Diplom-Zeugnis der TH München ausgehändigt bekommen.

Beruf und Familie

Während der Studienjahre sind meine Verbindungen zur katholischen Jugend in Holzkirchen nicht abgerissen. In dieser Zeit entstand auch eine neue Gruppierung, die sich „Junge Mannschaft (JM)“ nannte. In ihr hatten sich junge Familien und andere Jugendliche zusammengefunden, die sich als Heranwachsende den ganz Jungen nicht mehr so verbunden fühlten. Schon in der katholischen Jugend lernte ich meine spätere Frau kennen, die später auch der JM angehörte. Sie war in München bei der Raiffeisenzentralbank beschäftigt und fuhr wie ich täglich nach München. Bei den häufigen Begegnungen wuchs unsere Zuneigung zueinander und eines Tages waren wir uns einig, unseren Lebensweg gemeinsam gehen zu wollen. Für ein besitzloses Studentlein war es ziemlich chancenlos, bei ihren Eltern um die Hand ihrer Tochter anhalten zu wollen. Also hatten wir beschlossen, damit bis zum Abschluss meines Studiums zu warten. Dann aber wurde gleich ernst gemacht. Mit dem Diplom in der Hand bin ich bei ihrem Vater, von Beruf Lokführer, und seiner Frau  aufgekreuzt, um ihnen zu sagen, dass ihre Tochter und ich uns verloben wollen. Die Zustimmung dazu ist ihnen nicht leicht gefallen, aber sie haben wohl gemerkt, dass sie uns von unserem Vorhaben nicht abbringen würden.

Bereits am 22.11.1953 wurde in der Wohnung der zukünftigen Schwiegereltern am Bahnhofsplatz in Holzkirchen Verlobung gefeiert. Dabei waren beide Elternpaare sowie Lina Perzinger, eine Schulfreundin aus Prutting und mein Königsteiner Schulfreund Franz Marschner aus Starnberg.

Dem Start für einen gemeinsamen Lebensweg folgte bald darauf der Start ins Berufsleben. Schon während der Studienzeit hatte ich beschlossen, mich um die Übernahme in den Staatsdienst als Beamter zu bemühen. In Betracht kamen für einen Bauingenieur die Fachrichtungen Straßen- und Brückenbau oder Wasserwirtschaft. Nach längerem Abwägen habe ich mich für den Straßen- und Brückenbau entschieden, weil damals ein wirtschaftlicher Aufschwung einsetzte, der wiederum eine intakte Infrastruktur verlangte. Das Straßennetz war in jenen Jahren in einem beklagenswerten Zustand, so dass man erwarten konnte, über Jahre hinweg in diesem Fachbereich mit Planungs- und Bau-aufgaben vollauf gefordert zu sein.

Zum Eintritt in den Staatsdienst war Voraussetzung, die Diplomprüfung mit „gut“ bestanden zu haben. Diese Hürde hatte ich geschafft und so bewarb ich mich bei der Obersten Baubehörde in München um Zulassung in den Vorbereitungsdienst für den höheren bautechnischen Verwaltungsdienst. Am 1. Dez. 1954 konnte ich meinen Dienst als Baureferendar beim damaligen Straßen- und Flussbauamt Rosenheim antreten; die ersten regelmäßigen Bezüge vor Augen. Diese bestanden aus einem Unterhaltszuschuss von 192,- DM pro Monat, ein nicht gerade berauschender Betrag.

Mit dem Dienstantritt war selbstverständlich die Vorstellung beim Leiter des Amtes verbundne. Dies war der Oberbaurat Oberst, von dem ich schon erfahren hatte, dass er am letzten Weltkrieg als Offizier teilgenommen hatte, zuletzt als Major, und darauf mächtig stolz war. Das Vorstellungsgespräch verlief zunächst in recht freundlicher Atmosphäre, allerdings militärisch knapp. Dann kam irgendwann die Frage: „Noch Soldat gewesen, Kollege?“ Meine Antwort: „Jawohl Herr Oberbaurat.“ Nächste Frage: „Letzter Dienstgrad?“ Antwort: „Gefreiter, Herr Oberbaurat.“ Da wurde die Mine des Amtsvorstandes plötzlich recht eisig, das Wort Kollege fiel nicht mehr, und ich ward bald entlassen. Bei ihm begann der Mensch erst als Offizier.

Die ersten Wochen in Rosenheim – ich bin täglich von Holzkirchen mit dem Zug dorthin gefahren – dienten im wesentlichen dem Kennenlernen der Verwaltung und mehr oder weniger subalternen Hilfsdiensten. Gelegentlich durfte ich mit dem Winterdienstreferenten auf Dienstreise gehen und bekam so die ersten Eindrücke von der Organisation des Winterdienstes der bayerischen Staatsbauverwaltung. Bei einer solchen Reise lernte ich erstmals die vom Bauhof für Winterdienst in Inzell konstruierten Schneefräsen kennen, nämlich beim Freiräumen der von einer Lawine verschütteten Straße von Kreuth zum Achenpass.

Etwas ganz anderes lernte ich in der Zeit noch kennen, das war die Unterwürfigkeit unter die vorgesetzten Behörden. Der zuständige Straßenbaureferent der Regierung von Oberbayern war ein leidenschaftlicher Virginia-Raucher. Diese waren in Deutschland nicht zu haben, wohl aber in Österreich und dort speziell in Kufstein. Zwei vom Straßenbauamt Rosenheim betreute Straßen führten – und führen noch – fast bis vor die Tore von Kufstein, und zwar zum einen die Straße von Rosenheim nach Oberaufdorf und zum anderen die Straße von Bayrischzell nach Thiersee. Es war gestattet, bei Dienstreisen österreichisches Staatsgebiet zu durchfahren, wenn „Dienstgeschäfte“ auf diesen beiden Strecken zu erledigen waren. Und da ein „Dauerauftrag“ des Regierungsreferenten vorlag, versäumte es keiner der Dienstreisenden in diesem Raum, in Kufstein Virginia einzukaufen und sie dann dem Herrn Oberregierungs- und baurat devotest zu überreichen.

Bald war ich als frischgebackenen Bauingenieur mit den Anfangstätigkeiten unzufrieden. Mich drängte es zu einer handfesten Aufgabe. Und diese bekam ich auch. Sie bestand darin, den Ausbau eines Straßenstücks von der Autobahnanschlussstelle Irschenberg in Richtung Miesbach bis Jedling zu planen, auszuschreiben und die Bauabwicklung zu betreuen. Das hat mir viel Spaß gemacht, zumal damit auch eine sogenannte Auftragsvergütung verbunden war, die um einiges höher lag als der Unterhaltszuschuss. Es ging an mit der Vermessung, der Ermittlung des Bedarfs an Grund und Boden, der Erkundung der betroffenen Grundstückseigentümer und den Grunderwerbsverhandlungen. Letzteres war für den „Preußen“ nicht immer ganz einfach, da er es fast ausschließlich mit alteingesessenen Bauern zu tun hatte. Aber ich habe es geschafft, es kam zu keiner Enteignung.

Nach Ausschreibung und Vergabe begann die Bauausführung durch die Fa. Holzner aus Rosenheim. Ich hatte als staatlicher Bauleiter ständig auf der Baustelle zu sein. Mir stand damals ein dem Bauamt Rosenheim gehörendes Kleinkraftrad zur Verfügung, mit dem ich täglich von Holzkirchen auf die Baustelle gefahren bin. In dieser Zeit habe ich sehr viel praktische Erfahrung gesammelt, die mir für meine spätere Tätigkeit als höherer Beamter und Vorgesetzter von „alten Bauhasen“ von außerordentlichem Nutzen war.

Im Jahre 1954 wurde auch der Straßentunnel am Spitzingsee gebaut. Im Sommer musste ich 14 Tage lang dort den zuständigen Bauleiter vertreten, der erkrankt war. Ich fuhr also zwei- oder dreimal in der Woche mit besagtem Kleinkraftrad zum Spitzingsee. Auf der halben Bergstrecke musste ich regelmäßig eine Zigarettenpause einlegen, da der Motor heißgelaufen war und nicht mehr zog. Und abwärts lief der Karren im 1. Gang ebenso heiß, dass ich mich eines Tages entschloss, bei der Talfahrt auf den Motor zu verzichten und nur die Fuß- und Handbremse zu benutzen. Das allerdings war ein großer Fehler! Beide Bremsen versagten bald ihren Dienst. Das Vehikel wurde immer schneller, so dass ich nicht anders konnte, als in die Böschung hineinzufahren, was unweigerlich zu einem Sturz führen musste. Der jedoch verlief Gott sei Dank einigermaßen glimpflich. Ich hatte lediglich eine Wunde am Unterschenkel, verursacht durch die Pedale des Kraftrades. Bei letzterem war nur einiges verzogen, sonst fehlte nichts. Fahrbereit war es jedoch nicht mehr. Aber ich musste ja noch nach Holzkirchen. Also habe ich einen Kieslaster, der zur Baustelle fuhr, angehalten, den Karren aufgeladen, bin eingestiegen und habe von der Bauleitung am Spitzingsee aus den zuständigen Straßenmeister angerufen, der mich und das Motorrad in den Bauhof nach Rosenheim zum Richten gefahren hat.

Beim Straßenbauamt Rosenheim war ich noch bis zum 31.12.1954 tätig. In der Zeit habe ich „meine“ Baustelle weitestgehend abgeschlossen, das heißt, auch noch einen großen Teil der Abrechnung abgewickelt.

Von Januar bis einschließlich März 1955 war ich dem damaligen Autobahnbauamt München (heute Autobahndirektion Südbayern) zugeteilt, um die Aufgaben dieser Behörde kennenzulernen. Beschäftigt war ich dort u. a. mit der Vorplanung zu neuen Autobahnstrecken. Gut in Erinnerung ist mir noch, dass ich am Bau eines Geländemodells für das Inntaldreieck bei Rosenheim beteiligt war. Es diente dazu, den Betroffenen und am Genehmigungsverfahren Beteiligten die Anlage zum besseren Verständnis plastisch vor Augen zu führen. Heute ist dieses Dreieck längst Realität und im ganzen Bundesgebiet vor allem durch Staumeldungen bekannt.

In die Zeit beim Autobahnbauamt München fiel meine Hochzeit. Der gewählte Termin war nicht ganz zufällig, sondern durch beamtenrechtliche Regelungen mit beeinflusst. Für Baureferendare galt damals die ungeschriebene Regel, dass die im südbayerischen Raum beheimateten einen Teil ihrer Ausbildung in Nordbayern ableisten müssen und umgekehrt, d. h. mir stand in Kürze die Zuteilung an ein nordbayerisches Amt bevor. Und da es Trennungsgeld nur für Verheiratete, nicht aber für Ledige gab, haben wir den Hochzeitstermin auf den 29. Jan. 1955 festgesetzt.

Zur Vorbereitung auf die kirchliche Trauung gehört das Beratungsgespräch oder Stuhlfest, wie man in Oberbayern sagt. Meine Verlobte und ich sind also zu diesem Termin beim damaligen Pfarrer von Holzkirchen, dem Geistlichen Rat Imminger aufgekreuzt, einem älteren, äußerst liebenswürdigen Herren. Das sog. Stuhlfest war ein absolut angenehmes und lockeres Gespräch, in dessen Verlauf mich der Pfarrer plötzlich fragte: „Weißt Du schon, was Du Dir antust, wenn Du Deine Verlobte heiratest?“ Ich sagte: „Ich glaube schon, aber warum fragen Sie so gezielt?“ Er antwortete ganz verschmitzt: „Weißt Du nicht, dass sie ganz allgemein als der „Banhofsdeifi“* bekannt ist, und das wird schon seinen Grund haben.“ Nun ja, dachte ich mir, sie ist aber sicher ein lieber Deifi.

* weil sie am Bahnhofsplatz wohnte

Der Hochzeitstag begann mit der standesamtlichen Trauung im Rathaus von Holzkirchen. Trauzeugen waren ihr Bruder Fritz und mein Königsteiner Schulkamerad Franz Marschner. Die Brautmesse und die kirchliche Trauung hielt anschließend mein Schulfreund Horst-Achim Krause, genannt Jonny, von dem ich in Königstein meinen Spitznamen Pit geerbt hatte. Jonny wollte ursprünglich Medizin studieren, hat sich aber dann plötzlich für die Theologie entschieden und nach der Priesterweihe als Kaplan in der ehemaligen DDR gearbeitet. Er ist eigens aus der DDR angereist, um mir diesen Freundesdienst zu erweisen. Der Gottesdienst war sehr feierlich und die Trauung ausgesprochen persönlich. Jonny, der eine gute Stimme hatte, hat auf meinen Wunsch hin die sog. Feierliche Form der Präfation gesungen, die man heute nicht mehr kennt. Motto seiner Predigt waren die Verse: „Mann und Weib und Weib und Mann reichen an die Gottheit ran“ aus Mozarts Zauberflöte (Duett Pamina und Papageno), für die damalige Zeit schon ein etwas gewagtes Thema. Der Holzkirchner Kirchenchor hat für die musikalische Ausgestaltung des Gottesdienstes gesorgt.

Die anschließende Hochzeitsfeier fand im Gasthaus Doll am Marktplatz in Holzkirchen statt. Diese Lokal existiert heute nicht mehr. An seiner Stelle steht jetzt das Kaufhaus Jennerwein. Nach dem Mittagessen mit den geladenen Gästen stießen am Nachmittag noch Bekannte und Freunde aus der katholischen Jugend zu uns. Bichler Hans und Schorsch haben mit ihren Instrumenten für gute Stimmung gesorgt.

Zu einer Hochzeit gehört in aller Regel auch eine Hochzeitsreise. An Italien, Spanien oder etwa die Balearen war damals überhaupt nicht zu denken. Wir sind Anfang Februar ganz schlicht für etwa eine Woche auf das Sudelfeld bei Bayrischzell gefahren. Dort befand sich eine Hütte, die in den dreißiger Jahren der Bauleitung für die Sudelfeldstraße (Teil der geplanten Queralpenstraße) diente und nach dem Krieg von einer Hüttengemeinschaft des Straßenbauamtes Rosenheim übernommen wurde. Da ich Mitglied dieser Gemeinschaft war, konnten wir die Hütte für den Urlaub nutzen. Wir fuhren also mit der Bahn nach Bayrischzell, mit dem Lift aufs Sudelfeld und gingen weiter zu Fuß zur Hütte, den Rucksack auf dem Rücken und die Skier auf den Schultern. Die Hütte hatte im Erdgeschoss einen großen Aufenthaltsraum mit Herd zum Heizen und Kochen, einen kleineren Raum mit zwei Betten und im Obergeschoss ein großes Matratzenlager. In letzterem haben wir uns eingerichtet, da das Zwei-Bett-Zimmer dem Amtsvorstand vorbehalten war. Unsere Nachtruhe auf der Matratze währte nicht lange, denn bald war das Feuer im Herd ausgegangen und es wurde bitterkalt. Da das letzte vorbereitete Brennholz verheizt war, blieb nichts anderes übrig, als mitten in der Nacht aufzustehen, Holz zu spalten und wieder einzuheizen. Aber bis es im Obergeschoss etwas wärmer wurde, haben wir so gefroren, dass wir es gewagt haben, den „geheiligten“ Raum im Erdgeschoss, der sonst nur dem Amtsvorstand vorbehalten war, zu beziehen. Dort war es doch etwas wärmer.

Am nächsten Tag haben wir die Umgebung etwas näher erkundet und mussten feststellen, dass wegen der viel zu geringen Schneeauflage Skifahren nicht möglich war. Also haben wir uns zu Winterwanderungen entschlossen und die Region des Sudelfeldes im Umkreis um die Hütte herum erkundet. Das blieb die ganze Woche so, denn es fiel kein Neuschnee, es blieb trocken, meist sonnig aber kalt.

Nach dem Urlaub ging für uns beide der Dienst wieder an. Meine Zeit am Autobahnbauamt München war nach wenigen Wochen, nämlich am 31.03.55 zu Ende.

Vom 1. April an war ich für ein halbes Jahr beim Straßenbauamt Aschaffenburg beschäftigt. In der Schlossgasse in Aschaffenburg hatte ich bei einer jüngeren Familie eine „Bude“ gefunden. Schwerpunkt meiner dienstlichen Tätigkeit war der Brückenbau. Nachdem ich im Amt eine kleinere Straßenbrücke in einer Ortsdurchfahrt geplant und berechnet hatte, wurde ich nach Gemünden a. Main abgeordnet. Dort war eine Saalebrücke im Zuge einer Teilortsumgehung im Bau. Ich war der staatlichen Bauleitung zugeteilt und habe von dem Bauleiter, einem erfahrenen Bauingenieur, viele praktische Dinge gelernt, die mir für mein späteres Berufsleben von hohem Nutzen waren.

Gewohnt habe ich in einem Haus in Gemünden in unmittelbarer Nähe des Bahndammes. Auf der Bahnlinie waren die Hauptstrecken von Frankfurt nach Würzburg und von Fulda nach Würzburg vereinigt, so dass reger Zugverkehr herrschte. Da der Untergrund der Bahn als auch der des Wohnhauses Schwemmland vom Main war, wurden die Schwingungen der Züge bis in größere Entfernung übertragen. Für mein Bett bedeutete das, dass es bei jedem vorbeifahrenden Zug leicht zu vibrieren begann. Das war durchaus gewöhnungsbedürftig.

Während meiner Zeit in Gemünden war es meiner Frau und mir gelungen, gleichzeitig eine Woche Urlaub zu bekommen. Sie hat mich besucht und wir haben die Gelegenheit genutzt, eine für uns noch unbekannte Region zu erkunden. Zu Hilfe kam und dabei eine Bezirkswochenkarte der Bundesbahn, die sehr preisgünstig war und von Frankfurt im Westen bis Bamberg im Osten sowie von der Rhön im Norden bis Rothenburg ob der Tauber im Süden reichte. Der Bahnknotenpunkt Gemünden lag fast genau im Zentrum dieses Bahnnetzes. Nach „generalstabsmäßiger“ Planung haben wir an jedem Tag der Woche andere Ziele aufgesucht und in kurzer Zeit Eindrücke von einem Gebiet gewonnen, dass für uns beide Neuland war.

Am 30. Sept. 1955 ging meine Zeit in Unterfranken zu Ende und am 1. Okt. musste ich meinen Dienst am Wasserwirtschaftsamt Weilheim antreten. Wieder musste ich mich nach einem Zimmer umsehen, das ich bei einer älteren Dame fand. Ich erinnere mich noch an recht viel Plüsch in der Wohnung.

In der kurzen Zeit am Wasserwirtschaftsamt konnte ich nur einen groben Überblick über die Aufgaben der Wasserwirtschaft und des Wasserbaus gewinnen. Ich bin aber an diesem Amt einem Praktiker begegnet, der mir heute noch eine gewisse Hochachtung abnötigt. Es war ein Baurat, mein unmittelbarer Vorgesetzter. Eines Morgens sagte er zu mir: „Sie fahren heute mit mir in den Außendienst. Im Hof steht der Dienstwagen, der Fahrer lädt gerade Pflöcke in den Kofferraum. Helfen Sie ihm dabei!“ Als auch noch der Schlegel eingeladen war, ging’s ab zur mittleren Ammer. Dort war der Bau eines Hochwasserdammes in den Ammerauen geplant. Es war ein kühler Morgen, Reif bedeckte die Wiesen. Am Zielort angekommen ließ er den Fahrer und mich aussteigen, die Pflöcke ausladen und dann fuhr er selber mit dem Wagen langsam etwa parallel zur Ammer. Das Auto hinterließ im Raureif deutliche Spuren. Und in der linken Fahrspur hatten wir, so sein Auftrag vor dem Start, in regelmäßigen Abständen Pflöcke einzuschlagen. Am Ende der Aktion sagte er zu uns: „So, jetzt haben wir die Achse des neuen Ammerdammes abgesteckt. Ein zügigerer Verlauf ist auch bei bester Planung nicht zu erreichen und die haben wir uns erspart. Jetzt braucht nur noch ein Gestrüpp die Pflöcke ein zumessen!“ Mich hat beeindruckt, wie das Zusammenwirken von einem hellen Kopf, Raureif und Autospur eine aufwendige Planung ersetzen kann.

Während meiner Zeit in Weilheim war es gelungen, die erste eigene Wohnung in Holzkirchen aufzutreiben. Sie befand sich in der Münchner Str. 37 im 2. Stock. Es war eine größere Wohnung, die wir erst mit einem jungen Ehepaar geteilt haben. Unser Anteil war eine kleine Wohnküche und ein Schlafzimmer. Auf dem Treppenabsatz zwischen dem ersten und zweiten Stockwerk war ein „Plumpsklo“, das drei Mietparteien diente. Eine Dusche oder ein Bad gab es nicht. Wir jedoch waren zufrieden, waren es doch unsere ersten „eigenen vier Wände“.

Diese „vier Wände“ konnten wir ab Januar 1956 ständig gemeinsam nutzen, denn von diesem Zeitpunkt an war ich bei der Regierung von Oberbayern in München tätig, d. h. die tägliche Heimkehr vom Dienstort zum Wohnort war möglich. Bei der Regierung war ich insbesondere mit straßenrechtlichen Fragen und der Prüfung von Planungen befasst. Der Einblick in das weite Feld der Aufgaben der Straßenbauverwaltung rundete sich weiter ab.

Nach vier Monaten bei der Regierung begann am 1. Mai 1956 eine für einen Bauingenieur hochinteressante und instruktive Zeit, nämlich bei der staatlichen Bauleitung für den Sylvensteinspeicher bei Fall. Die Palette der Ingenieuraufgaben dort war breit gefächert. Sie reichte vom Alpenstraßenbau über den Brückenbau, den Dammbau und den Stollenbau bis zum Kraftwerksbau. Die drei Monate dort waren viel zu kurz, um intensiv technische Details kennenzulernen. Aber schon der weitgehend nur grobe Überblick war enorm lehrreich.

Da eine tägliche Heimfahrt nicht möglich war, wohnte ich in einer der Unterkunftsbaracken, die der Staat als Bauträger des Speichervorhabens aufgestellt hatte. Und was tut man an den Abenden in dieser „Einöde“? Ich habe viel Skat gespielt und es gab so manchen fröhlichen Umtrunk.

Der Tätigkeit am Sylvensteinspeicher folgte am 1.8.56 der Dienst an der letzten Ausbildungsstätte meiner Referendarzeit, nämlich am Straßenbauamt München. Nun war erfreulicherweise wieder die tägliche Heimkehr zu unserer Wohnung in Holzkirchen möglich. In München wurde ich zu vielerlei Aushilfsarbeiten herangezogen, es blieb aber daneben noch genügend Zeit zur Vorbereitung auf die 2. Staatsprüfung.

Doch bevor ich darauf zurückkomme, möchte ich noch ein paar Dinge ansprechen, die nicht dem dienstlichen Bereich zugehören.

Da denke ich zum einen an zwei für die damaligen Verhältnisse größere Reisen. Zehn Jahre nach dem verlorenen Weltkrieg war es wieder möglich ins Ausland zu reisen, und das hatte natürlich auch für uns einen besonderen Reiz. Im Sommer 1955 haben wir uns einer Busreise angeschlossen, die nach Riva am Gardasee, nach Venedig und nach Brixen in Südtirol führte. La bella Venezia, die Stadt am Meer, die Stadt der Kanäle und die Stadt der Kirchen war, wie sollte es anders sein, der Höhepunkt dieser Reise.

Ein Jahr später haben wir uns für eine Pilgerreise nach Rom, veranstaltet vom Bayerischen Pilgerbüro, entschieden. Es war eine Bahnreise. Untergebracht waren wir bei katholischen Schwestern in Rom in großen Zimmern oder Sälen, die mit Tüchern in Schlafkabinen unterteilt waren. Die Schlichtheit der Unterbringung wurde wettgemacht durch die großartigen Eindrücke, die wir im antiken und christlichen Rom gewinnen konnten.

Des weiteren denke ich daran, dass sich für uns 1956 ein sehnlicher Wunsch, nämlich eine Familie zu werden, nicht erfüllt hat. Ein Abgang hat die Vorfreude auf ein Kind zerstört.

Und noch etwas anderes ist an dieser Stelle erwähnenswert. Der Bruder meiner Frau Fritz hat im Oktober 1956 geheiratet. Seine Frau Sigrid ist eine geborene Breslauerin. Schon einige Zeit vor der Hochzeit habe ich mich mit ihr einmal länger über Breslau unterhalten und dabei erfahren, dass sie im Stadtteil Zimpel gewohnt hat. Da in diesem Stadtteil das Stadion lag – und noch liegt -, habe ich u. a. ganz vorsichtig nachgefragt, ob sie dort vielleicht auch beim Rollschuh-Laufen war. Und da Sigrid dunkelhaarig ist, habe ich sie – nicht ohne Hintergedanken – weiter gefragt, ob sie eine blonde Freundin hatte, mit der sie zusammen beim Rollschuh-Laufen war. Beide Fragen hat Sigrid bejaht, so dass ich daraufhin meine Hintergedanken offenlegen konnte, nämlich die, dass es sich bei ihr und der blonden Freundin um jene 2 Mädchen gehandelt haben könnte, denen meine beiden Klassenkameraden und ich 1942 des Öfteren in der Rollschuh-Bahn zugeschaut haben. Ich habe schon davon berichtet. Nachdem Sigrid und ich uns noch über eine Reihe von Details unterhalten hatten, waren wir uns einig, dass sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit jenes dunkelhaarige Mädchen war, das einst im Breslauer Stadion unsere Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte.

Nun aber zurück zum Ende der Referendarzeit. Sie schloss ab mit der 2. Staatsprüfung, die in zwei Teilen, einem schriftlichen und einem mündlichen, abgelegt werden musste. Die schriftliche Prüfung dauerte vom 24.9 bis 6.10.1956. Zwölf Tage lang, jeweils von Montag bis Samstag war abwechselnd eine 8- und 4-stündige Aufgabe zu bearbeiten, das ergibt eine Prüfungsdauer von 72 Stunden. Dass wir nach diesen zwei Wochen wie gerädert waren, ist wohl nicht verwunderlich. Die mündliche Prüfung folgte am 19.11. und dauerte für jeden Prüfling 6 mal 20 Minuten, also insgesamt 2 Stunden.

Als diese „Torturen“ vorüber waren, begann das große Zittern. Wir waren 9 Prüflinge und jeder wollte in den Staatsdienst übernommen werden, denn sonst hätte er sich ja nicht der dreijährigen Ausbildung unterzogen. In jenen Jahren war es aber die Regel, dass nur etwa ein Drittel der Prüflinge tatsächlich übernommen wurden, also die mit den besten Prüfungsnoten. Die übrigen hatten gewisse Chancen, als Angestellte in der Bauverwaltung beschäftigt zu werden oder sie mussten sich in der freien Wirtschaft einen Arbeitsplatz suchen.

Das Zittern endete am 15.12.56. An diesem Tag wurden die Prüfungszeugnisse ausgehändigt. Ich hatte die Platzziffer 4, aber bis auf 2 Stellen hinter dem Komma die gleiche Note wie der Kollege Paintner mit Platzziffer 3. Für die bessere Platzziffer war das Ergebnis der schriftlichen Prüfung maßgebend.

Beruf und Familie

Mit dem Zeugnis in der Hand, das – nebenbei bemerkt – dazu berechtigt, den Titel „Regierungsbaumeister“ zu führen, und in der Annahme, dem ersten Drittel zugerechnet zu werden, zeichneten sich nun endlich Perspektiven ab, endgültig in das angestrebte Berufsleben eintreten zu können. Es begannen für die Prüfungsteilnehmer mit den Platzziffern 1 bis 4 auch bald Gespräche mit der Obersten Baubehörde über die weitere Verwendung als Beamter. Es wurden uns vier verschiedene Behörden als künftiger Dienstort angeboten. Natürlich sind die Wünsche der ersten drei vorrangig berücksichtigt worden. Übrig blieb für mich das Straßenbauamt Aschaffenburg. Ich konnte mich sehr schnell dafür entscheiden, denn ich war häufigen Ortswechsel durchaus gewöhnt und kannte außerdem das Amt schon. Zu meiner Freude hat sich auch meine Frau mit dem Gedanken abfinden können, Holzkirchen zu verlassen, obwohl es ihr nicht ganz leicht gefallen ist.

Nachdem in den Gesprächen mit der Obersten Baubehörde für mich die Weichen in Richtung Aschaffenburg gestellt waren, begann das Warten auf die Ernennungsurkunde zum Beamten und auf die Versetzung nach Aschaffenburg. Doch das Warten war zunächst vergeblich. Meine drei Kollegen hatten bereits Mitte Januar 1957 ihre Urkunden in der Hand, bei mir aber rührte sich nichts. Bei der Obersten Baubehörde erfuhr ich, dass sich meine „Verbeamtung“ verzögere und ich dem Straßenbauamt Aschaffenburg zunächst einmal als Angestellter zugeteilt werde. So geschah es auch; am 21.2.57 hatte ich meinen Dienst in Aschaffenburg anzutreten.

Dort ging das Warten weiter. Mir wurde die Verzögerung immer mysteriöser, so dass ich beschloss, in München aktiv zu werden. Ich nahm im März einen Tag Urlaub und suchte den Personalreferenten der Obersten Baubehörde auf. Das Gespräch verlief anfangs außerordentlich befremdlich. Die Fragen, ob denn meine Frau aus Oberbayern stamme, wo meine Schwiegereltern geboren seien und ob ich denn die Absicht habe, in der Staatsbauverwaltung in Bayern zu bleiben, gaben für mich vorerst keinen Sinn. Erst als der Personalreferent „die Katze aus dem Sack ließ“, ging mir ein Licht auf. Unter dem Siegel der Verschwiegenheit erzählte er mir, dass dem zuständigen Innenminister meine Ernennungsurkunde zusammen mit denen meiner Prüfungskollegen und mit einer Reihe von weiteren aus anderen Fachrichtungen zur Unterschrift vorgelegen habe. Bei der Unterzeichnung habe er die ihm vorgelegten Prüfungsakten durchgeblättert und einige Urkunden auf die Seite gelegt. Diesen Stapel drückte er am Ende der Unterschriftsaktion seinem persönlichen Referenten in die Hand mit der Bemerkung: „Haben wir nur noch Preußen in der Verwaltung? Diese Urkunden unterzeichne ich nicht!“ In jenem Stapel lag auch meine Urkunde.

Man muss hierzu wissen, dass von Dez. 1954 bis Okt. 1957 in Bayern ein Viererkoalition, bestehend aus SPD, FDP, BHE (Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten) und BP (Bayernpartei) die Regierung bildete. Innenminister war damals Dr. August Geiselhöringer von der Bayernpartei, der den „Preußen“ alles andere als wohlgesonnen war. Das erklärt auch die Verweigerung der Unterschrift.

Der Verwaltung gelang es jedenfalls nicht, dem Minister die Unterschrift unter meine Ernennungsurkunde abzuringen. Auf meine Frage an den Personalreferenten, wie es denn nun weitergehen solle, bekam ich den Rat, dass Anni einen Brief an den Minister schreiben solle, in dem sie sich zu ihrer bayerischen Heimat bekennt und um die Übernahme ihres Mannes in das Beamtenverhältnis bittet. Was tut man nicht alles in der Situation, in der wir uns damals befanden! Obwohl für uns fast etwas demütigend haben wir am 8.4.57 einen Brief an den Innenminister abgesandt, dessen Inhalt ein wenig zeitgeschichtliche Bedeutung hat und deshalb nachfolgend wiedergegeben werden soll.

…. Pöpelt                                                                                                                                 Holzkirchen, 8.4.1957
Münchenerstraße 37

An den

Herrn Staatsminister des Inneren

Dr. August Geiselhöringer

München

Odeonsplatz 3

Betreff: Antrag auf Übernahme meines Mannes, des Regierungsbaumeisters Pöpelt in das             Beamtenverhältnis.

Sehr geehrter Herr Staatsminister!

Wenn ich mich an Sie, Herr Staatsminister, persönlich wende, so geschieht es deshalb, weil ich glaube, dass mein Mann in der Frage der Übernahme in das Beamtenverhältnis durch die Oberste Baubehörde im Bayer. Staatsministerium des Inneren in München ungerecht behandelt wurde.

Mein Gatte, geb. 1926 in Schlesien hat im Herbst 1956 die Staatsprüfung für den höheren bautechnischen Verwaltungsdienst in Bayern abgelegt und dabei die Gesamtnote 3,79 „befriedigend“ erhalten. Die gleiche Note, nämlich 3,79 hat sein Prüfungskollege Josef Paintner erreicht, der bereits im Januar 1957 zum Reg. Bauassessor ernannt wurde. Meinem Mann war durch die Oberste Baubehörde zunächst die Ernennung zum Reg. Bauassessor schriftlich zugesichert worden. Kurz darauf wurde ihm durch die gleiche Behörde schriftlich mitgeteilt, dass seine Ernennung bis auf weiteres verschoben sei. Die Gründe hierfür sind nicht ersichtlich.

Meine Bitte, sehr geehrter Herr Staatsminister, geht nun dahin, die Angelegenheit überprüfen zu wollen. Ich glaube, dass meinem Mann das gleiche Recht zusteht wie dem Reg. Bauassessor Paintner, da er das gleiche Prüfungsresultat erzielt hat, und da in der Bayer. Verfassung der Wettbewerbscharakter der Staatsprüfungen ausdrücklich hervorgehoben wird.

Auch aus persönlichen Gründen wäre mir eine baldige Klärung der Angelegenheit sehr genehm. Ich bin gebürtige Holzkirchnerin, und auch meine Vorfahren stammen ausnahmslos aus Oberbayern und der Oberpfalz. Es wäre für mich beruhigend zu wissen, wenn meinem Mann durch Übernahme in das Beamtenverhältnis ein dauernder Verbleib in meiner bayerischen Heimat, der ich mich sehr verbunden fühle, sichergestellt sei.

Ich darf Sie nochmals ebenso höflich wie dringend um eine Überprüfung der Angelegenheit bitten und begrüße Sie

                   mit vorzüglicher Hochachtung

                             Pöpelt

Der Brief hatte Erfolg. Mit Urkunde vom 18. April 1957 (Unterschrift Dr. Geiselhöringer) wurde ich zum Regierungsbauassessor ernannt. Nun war das angestrebte Berufsziel endgültig erreicht.

In Aschaffenburg eine Wohnung kurzfristig zu finden war so gut wie ausgeschlossen. Ich war wieder einmal auf ein Zimmer angewiesen. Nach einem kurzen Intermezzo in der Schlossgasse fand ich ein sehr schönes in dem Haus einer Arztwitwe in Aschaffenburg-Schweinheim. Das konnte aber nur eine Übergangslösung sein, weshalb ich mich zum frühest möglichen Zeitpunkt um eine Staatsbediensteten-Wohnung bewarb. Zusagen, bis wann ich mit einer solchen rechnen könne, konnte mir niemand geben. Also hieß es: abwarten.

Meine Versetzung nach Aschaffenburg führte am dortigen Straßenbauamt zu einer Neuverteilung der Aufgaben. Ich erhielt ein sog. Gebietsreferat, das war die Zuständigkeit für das Straßennetz in den Landkreisen Lohr und Gemünden. Zu dem Straßennetz gehörten Bundes-, Staats- und Kreisstraßen. Der angenehmste Aufgabenbereich war die Betreuung der Kreisstraßen, weil hier die Hierarchie der Bauverwaltung nicht beteiligt war und die Entscheidung über Planung, Bau und Finanzierung allein dem jeweiligen Kreistag mit dem Landrat an der Spitze oblag. Ein gutes Verhältnis zu den Landräten war wichtig, um bautechnische Überlegungen den Kreisräten schmackhaft zu machen. Diese guten Verhältnisse herzustellen ist mir recht bald gelungen.

Bei den Staatsstraßen lag vieles im Argen. Ein nicht unbedeutender Teil dieser Straßen hatte noch eine sog. wassergebundene Fahrbahn, d. h. es waren Kiesstraßen. Da die Mittel auch damals schon knapp waren, lief ein „Schwarzmachungsprogramm“, was nichts anderes bedeutet, als dass die Straßen in zwei Lagen mit Teer bzw. Bitumen angespitzt und dann abgesplittet wurden. Sie waren danach wenigstens staubfrei, aber noch längst nicht frostsicher.

Etwas anderes war es bei den Bundesstraßen. Dort gab es schon mal die eine oder andere größere Neubaumaßnahme, denn es waren ja die Straßen mit der stärksten Verkehrsbelastung. Jedenfalls hat es Spaß gemacht, weitgehend eigenständig arbeiten zu können. Dem Amtsvorstand hat es in der Regel genügt von den wesentlichsten Ereignissen unterrichtet zu werden.

Weniger Spaß gemacht hat das Alleinsein. Das ging nicht nur mir so, sondern auch einigen anderen Kollegen, die von Frau oder Familie getrennt in Aschaffenburg lebten. Um etwas Abwechslung in die langen Abende zu bringen, haben wir uns im Juni 57 in kleinerem Kreis zusammengesetzt und überlegt, ob wir Kartenabende, Schachabende oder einen Kegelclub organisieren sollen. Die Entscheidung fiel zugunsten des Kegelclubs. Eine Kegelbahn war bald gefunden, auch ein freier Abend alle zwei Wochen. Der ersten Einladung folgten wenige, doch bald wurde der Kreis immer größer. Zu den Gründungsmitgliedern gehörten neben mir u. a. Heinz Mahncke und Erwin Faßbender. Der Kegelclub besteht übrigens heute noch.

Als sich das Jahr 1957 dem Ende zuneigte, kam endlich eine Wohnung in Sicht. Die Wohnungsfürsorgestelle hat mir ein Domizil in der Schillerstraße 35 in Aschaffenburg-Damm angeboten, bestehend aus Küche, Wohnzimmer und Schlafzimmer, beziehbar ab Januar 1958. Sie lag im Erdgeschoss eines Mehrfamilienhauses. Da sie für uns von der Größe her ausreichend war, habe ich sie sofort angenommen, um dem Getrenntsein ein Ende zu bereiten.

Am 30. Dezember 1957 haben wir unsere erste kleine Wohnung in Holzkirchen geräumt, den Möbelwagen beladen, noch eine Nacht bei den Schwiegereltern geschlafen und sind am frühen Morgen des 31. Dez. mit der Bahn nach Aschaffenburg gefahren. Als wir in die Schillerstraße kamen, stand der Möbelwagen schon da. Er war schnell ausgeräumt, denn unsere Habe war damals nicht sonderlich voluminös. Eingerichtet haben wir nicht mehr viel, weil am Abend eine Silvesterfeier bei Faßbenders vereinbart war. Nur die Betten wurden aufgestellt, um am Neujahrstag ordentlich ausschlafen zu können.

Das Jahr 1958 brachte die Erfüllung eines lange gehegten Wunsches, nämlich eine Familie zu werden. Unser Sohn Michael Josef wurde im Aschaffenburger Krankenhaus geboren. Die Taufe fand in der St. Josefskirche im Stadtteil Damm statt.

Taufe

Taufe Michael 1958 mit Onkel Karl und Tante Brigitte

Noch ein Ereignis aus dem Jahr 1958 ist in meinem Gedächtnis nicht untergegangen, weil es einmalig war. Ich konnte an einer von der Bauverwaltung organisierten Studienreise teilnehmen, die zu einigen bemerkenswerten Straßen- und Brückenbauten im Saarland, in Rheinland-Pfalz und in Nordrhein-Westfalen führte, mit der aber auch ein Besuch der Weltausstellung in Brüssel verbunden war. Was dort zu sehen war, war faszinierend. In 48 Pavillons haben sich die jeweils ausstellenden Länder mit ihrer Landschaft, ihrer Kultur und ihren technischen Leistungen vorgestellt. Ein besonderer Publikumsmagnet war der russische Pavillon, in dem u. a. ein Modell des ersten Satelliten „Sputnik“ gezeigt wurde, der am 4. Okt. 1957 auf eine Erdumlaufbahn gebracht worden war. Beherrscht war das Ausstellungsgelände von dem „Atomium“, einem 110 m hohen Bauwerk in Form einer 150milliardenfachen Vergrößerung eines Alpha-Eisenkristalls.

In meinem Aufgabenbereich am Straßenbauamt trat 1959 eine Veränderung insofern ein, als ich nach der Versetzung des älteren Kollegen Heininger dessen Funktion als Vertreter des Amtsvorstandes übernahm und für sein Gebiet mit den Landkreisen Alzenau, Aschaffenburg und Marktheidenfeld zuständig wurde. Das brachte interessante Aufgaben mit sich, wie z. B. die Vorbereitung des Baues einer neuen Mainbrücke in Aschaffenburg, an deren Verwirklichung ich noch mitgearbeitet habe, deren Fertigstellung ich aber nicht mehr in Aschaffenburg erlebt habe.

Als Vertreter des Amtsvorstandes stand ich 1960 plötzlich vor der Aufgabe, das Amt für mehr als ein halbes Jahr allein führen zu müssen, weil der Leiter der Behörde durch eine schwere Erkrankung so lange dienstunfähig war. Das war für einen sehr jungen Baurat eine Herausforderung, aber auch eine große Chance, sich zu bewähren. Ich hatte in dieser Zeit so manche Gespräche und Verhandlungen mit den vorgesetzten Behörden, nämlich der Regierung in Würzburg und der Obersten Baubehörde in München zu führen. Das hat dazu beigetragen, dass ich da „oben“ bekannt wurde, und da ich nicht „unangenehm aufgefallen“ bin, war das meinem weiteren beruflichem Werdegang sicher dienlich.

Privat gab es 1960 auch zwei, wie ich meine, bemerkenswerte Ereignisse. Das erste war der Erwerb eines Autos, das zwei motorisierte Vorgänger ablöste, nämlich einen Vespa-Roller, den wir nur kurze Zeit besaßen, und zwei Mopeds, die uns manchen Kurzausfulg ermöglichten. Das neue Auto war ein VW-Käfer, der uns u. a. die nicht seltenen Fahren zu den Eltern und Schwiegereltern nach Holzkirchen wesentlich erleichtert hat. Ich war damals bereits 34 Jahre und erwähne es deswegen, weil es heute fast zum Standard gehört, mit 18 Jahren ein Auto zu haben oder wenigstens das der Eltern mitbenutzen zu können.

Das zweite Ereignis war der Umzug in eine größere Wohnung. Michael sollte ein eigenes Zimmer bekommen und das war in der neuen Wohnung in der Ernsthofstraße 8 vorhanden. Umgezogen sind wir im Sept. 1960. Die Wohnung befand sich im 1. Stock. Die Lage war sehr zentral, der Weg zu Dienststelle kurz. Zwischen Wohnung und Amt lag eine Parkanlage, das Schöntal, sehr geeignet für kurze Spaziergänge mit Michael.

Die Ernsthofstraße gehörte zur Pfarrei Herz-Jesu. meine Frau hat dort bald Anschluss beim Kirchenchor gefunden. Sie, die begeisterte Sängerin, die schon im Holzkirchener Kirchenchor mitgesungen hatte, konnte nun ihre schöne Stimme wieder zum Klingen bringen. Und Michael konnte, als der drei Jahre alt war, den Pfarrkindergarten besuchen. Begleitet wurde er auf dem Weg dorthin von Christine Bachhuber, der etwa gleichaltrigen Tochter des Ehepaares, das die Wohnung unter uns in der Ernsthofstraße inne hatte.

Die Jahre in Aschaffenburg waren eine glückliche Zeit. Wir haben manche Freundschaft geknüpft, fröhliche Feste – besonders im Fasching – gefeiert und bei zahlreichen Ausflügen die Region erkundet. Der Kegelklub war eine gesellige Runde; jeder Kegelabend fast wie eine Fete und der jährliche Kegelausflug ein besonderer Höhepunkt guter Laune. Dazu hat in der Regel auch der Wein beigetragen, der in Unterfranken prächtig gedeiht. Auf diese Zeit geht meine Liebe zum Wein zurück, die bis heute nicht erloschen ist.

Beruflich konnte ich zufrieden sein. Die Tätigkeit war abwechslungsreich, die Mitarbeiter – von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen – loyal und kompetent. Aber irgendwann musste, wie es in meiner Laufbahn üblich war, ein Ortswechsel kommen. Es gab auch schon hie und da Spekulationen über meinen künftigen Dienstort. Eine solche möchte ich da erwähnen. Am 22. Nov. 1963 – ich weiß das Datum deshalb so genau, weil an diesem Tag der amerikanische Präsident J. F. Kennedy ermordet wurde – haben die Kegler des Straßenbauamtes Aschaffenburg eine Wettkampf gegen die Kegler des Straßenbauamtes Würzburg im Zementwerk in Lengfurt an der Grenze zwischen den beiden Bauämtern ausgetragen. Dass es dabei nicht „trocken“ zuging, versteht sich von selbst. Zu sehr später Stunde ging es in feucht-fröhlicher Stimmung nach „Ascheberg“ zurück. Und wie häufig nach solchen oder ähnlichen Veranstaltungen bestand am Ziel das Bedürfnis, noch einen guten Kaffee zu trinken und das geschah in unserer Wohnung. Meine Frau war das schon gewohnt, gelegentlich aus dem Bett geholt zu werden, um die Kaffee-Gelüste des „harten Kerns“ zu befriedigen. Sie lotste uns in die Essküche, nicht ins Wohnzimmer, und bat, nicht zu laut zu sein, weil im Wohnzimmer ihre Cousine Brigitte schlafe. Damit hat sie Öl aufs Feuer gegossen, denn die Runde gab keine Ruhe, bis sich Brigitte im Morgenrock zu uns setzte. Das beflügelte die Phantasie des einen oder anderen und plötzlich stand die Behauptung im Raum, ich würde an das Straßen- und Wasserbauamt in Kronach versetzt. Meine Frau wusste aus Gesprächen, dass dieses Amt als verpönt galt, weil es an der Zonengrenze lag, wo sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagen. Zu Recht war sie ob dieser Behauptung sehr beunruhigt. Erst am nächsten Tag konnte ich sie über diesen „Jux“ aufklären. Mit Heinz Mahncke, der – wie meistens – dieser fröhlichen Runde angehörte, sprachen wir immer wieder einmal über diese „Nachtsitzung“.

Weil es aber oft im Leben so geht, wird aus einem Jux plötzlich Ernst. Wenige Wochen nach dem 22. November wurde ich davon unterrichtet, dass ich nach Oberfranken versetzt werde, jedoch nicht nach Kronach sondern nach Bayreuth in die Bauabteilung der Regierung von Oberfranken. Das war mir und uns nicht ganz unsympathisch, denn einmal konnte man dies beruflich als einen gewissen „Aufstieg“ ansehen und zum anderen rückten wir räumlich näher an Holzkirchen ran.

Hier enden die Aufzeichnungen meines Vaters. Warum er nicht weiter geschrieben hat, weiß ich nicht. Immerhin kam in den Jahren danach noch meine Schwester zur Welt.